Leseprobe zu: Hotshots Firefighters Band 3, Gefährliche Begegnung

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Unverkäufliche Leseprobe

Connor MacKenzie lenkte seinen Mietwagen in die Kiesauffahrthinter
dem alten Holzhaus. Als er den Autoschlüssel abzog, kratzte
der billige Metallring des Anhängers über die Narben in seiner
Handfläche. Fluchend ertrug er den heftigen Schmerz, der seine
Hand durchzuckte. Die Haut spannte dort so stark, dass er die
Finger kaum bewegen oder gar zur Faust ballen konnte.
Auch wenn es heute nicht mal so schlimm war. Den ganzen
Flug über und auch während der zweistündigen Autofahrt über
verschlungene Landstraßen hatte er wenigstens Gefühl in den
Händen gehabt. Die schlimmsten Tage waren diejenigen, an
denen die Taubheit siegte. Dann kam er sich vor wie ein verwundeter
Löwe in einem viel zu kleinen Käfig, der ständig auf
eine Gelegenheit zur Flucht lauerte, um wieder gesund und frei
als König des Dschungels umherstreifen zu können.
Die Hand brannte immer noch, als er den Gurt löste und die
Autotür hinter sich zuschlug. Er musste dringend irgendwohin,
wo er auf das Wasser blicken und tief durchatmen konnte. Sich
verdammt noch mal wieder beruhigen.
Dieser See inmitten der Adirondack-Wälder würde ihm dabei
helfen, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Es war höchste Zeit.
Dafür hatte Connor einen anderen See hinter sich gelassen.
Zwölf Jahre lang hatte er rund um Lake Tahoe in Kalifornien
Flächenbrände bekämpft. Aber er konnte unmöglich noch einen
weiteren Sommer lang seinem Bruder und seinen Freunden dabei
zusehen, wie sie dort ein Feuer nach dem anderen löschten,
während er zur Physiotherapie ging und sich im Übungsraum der
Feuerwehr mit Anfängern herumschlug, denen er theoretisches
Wissen vermittelte. Und dabei so tat, als würde er nicht mitbekommen,
wie sie ihm die ganze Zeit auf die von dicken Transplantationsnarben
überzogenen Arme starrten.
Sein Bruder hatte ihm geraten, nach Blue Mountain Lake zu
fahren. »Dianna und ich wollen Ende Juli in Poplar Cove heiraten
«, hatte Sam ihm erklärt. Ursprünglich war eine große
Hochzeitsfeier im Spätherbst, also zum Ende der Feuersaison,
geplant gewesen. Aber da Dianna schwanger war, hatten sie die
Feierlichkeiten jetzt kurzerhand um ein paar Monate vorverlegt.
»Das Holzhaus dort könnte nach all den Jahren sicher eine
Grundüberholung vertragen. Oma und Opa leben inzwischen
schließlich das ganze Jahr über in Florida. Vielleicht wäre das
etwas, mit dem du dich die nächsten Wochen beschäftigen könntest.
Jedenfalls besser, als hier untätig rumzuhängen.«
Connor hatte eigentlich vorgehabt, so lange vor dem Hauptgebäude
der Forstbehörde zu campieren, bis die Zuständigen
dort sich endlich bereit erklärten, die nötigen Formulare zu
unterzeichnen, damit er wieder zu seiner Hotshot-Crew zurückkehren
konnte. Zwei Jahre lang hatte er unzählige Male
Beschwerde eingelegt und eine Hürde nach der anderen überwunden,
um die Schreibtischtäter zu überzeugen, dass er – sowohl
geistig als auch körperlich – in der Lage war, wieder als
Hotshot zu arbeiten. Bislang hatten sie jedoch immer behauptet,
das Risiko sei zu hoch. Sie hielten es für wahrscheinlich, dass er
infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung im Ernstfall
wie gelähmt sein und somit zu einer Gefahr nicht nur für sich
selbst, sondern auch für andere werden würde.
Blödsinn. Er war wieder voll auf dem Damm. Schon längst.
Dieses Mal, da war er ganz sicher, würde seinem Antrag stattgegeben
werden.
Aber Sam hatte natürlich recht. Die Arbeit mit Hammer und
Säge an der Hütte würde ihm guttun. Außerdem waren lange
Dauerläufe auf den umliegenden Wanderwegen und ausgiebiges
Schwimmen im kühlen Wasser vielleicht genau das richtige
Mittel gegen die nervöse Unruhe, mit der er seit zwei Jahren zu
kämpfen hatte.
An diesem Ort würde sich bestimmt alles wieder zum Guten
wenden. Der kommende Sommer versprach besser zu werden
als der letzte – und mit Sicherheit verdammt viel angenehmer als
die beiden zuvor, die er im Krankenhaus verbracht hatte.
Connor ging von der Kiesauffahrt über das kleine Rasenstückbis
zum Seeufer hinunter. Er betrachtete die spiegelglatte Wasseroberfläche,
auf der sich dicke weiße Wolken und grüne Berghänge
abzeichneten, und wartete darauf, dass sich der feste Knoten
in seiner Brust löste.
In diesem Moment kam ein Schnellboot quer über den See
geschossen, dessen Kielwasser die eben noch so ruhige Wasseroberfläche
aufwirbelte. Wellen brachen sich am Ufer, sodass
Connor das Wasser in die Schuhe schwappte.
Verdammt.
Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Auch dieser
Sommer würde kein Zuckerschlecken werden. Connor konnte
bestenfalls darauf hoffen, die ständigen Schmerzen in Händen
und Armen in den Hintergrund zu drängen.
Er war hier, um sich bis zu Sams Hochzeit in Topform zu
bringen, damit er der kalifornischen Forstbehörde nach seiner
Rückkehr beweisen konnte, dass er wieder voll und ganz einsatzfähig
war.
Und er war hier, um das einhundert Jahre alte Holzhaus seiner
Urgroßeltern auf Vordermann zu bringen. Nach einem langen
Tag voll schweißtreibender Arbeit würde er hoffentlich abends
so müde sein, dass er seinen Albträumen entrinnen konnte. Sie
führten ihn stets zu dem grauenhaften Tag zurück, als er auf dem
Berg am Lake Tahoe beinahe sein Leben verloren hätte.
Er war hier, um endlich einmal ganz für sich alleine zu sein.
Connor würde alles in seiner Macht Stehende tun, um zu der
inneren Ausgeglichenheit zurückzufinden, die vor dem Feuer
in der Desolation Wilderness eines seiner Wesensmerkmale
gewesen war.
Connor wandte den Blick vom Wasser ab und betrachtete
die Hütte. In das Holz über der Eingangstür waren die Worte
POPLAR COVE geritzt. Auf diesen Namen hatten seine Urgroßeltern
1910 ihr Ferienhaus in den Adirondacks getauft.
Er musterte das Haus eingehend, um sich ein Bild davon zu
machen, was alles ausgebessert werden musste. Die heftigen
Stürme in der Gegend hatten dazu geführt, dass unter der überdachten
Veranda vor dem Eingang die Farbe abbröckelte. Einige
Dachziegel hatten sich gelockert.
Aber auch wenn Connor sich um eine objektive Sicht auf das
Blockhaus bemühte, nahm ihn die Liebe zum Detail, mit der
sein Urgroßvater es ein Jahrhundert zuvor errichtet hatte, sofort
gefangen. Jeder einzelne der verwendeten Baumstämme war
perfekt ausgewählt, und die von kleineren Balken und Astwerk
umrahmte Veranda mit viel handwerklichem Geschick gestaltet
worden.
Achtzehn Sommer hatte er hier gemeinsam mit Sam und ihren
Freunden in der liebevollen Obhut seiner Großeltern verbracht.
Nur seine Eltern waren nie dabei gewesen. Er hatte seine Mutter
einmal darauf angesprochen. Aber ihr Gesicht hatte daraufhin
diesen seltsamen Ausdruck angenommen, den er nicht ertragen
konnte und den er eigentlich nur von ihr kannte, wenn sie mit
Dad über seine vielen Überstunden sprach. Daher hatte er das
Thema schnell wieder fallen lassen. Er hatte den Eindruck gehabt,
sie würde gleich in Tränen ausbrechen.
Connor konnte kaum glauben, dass es schon zwölf Jahre her
war, seit er die Hütte das letzte Mal besucht hatte.
Nachdem er mit achtzehn bei den Hotshots angefangen hatte,
waren all seine Sommer mit Brandeinsätzen ausgefüllt gewesen.
Normalerweise war er am Anfang des Sommers zusammen mit
den anderen zwanzig Männern der Hotshot-Crew in die Wälder
an der Westküste gezogen – mit einer Kettensäge in der Hand
und fünfundsiebzig Kilo Gepäck auf dem Rücken. Doch die
letzten beiden Jahre waren alles andere als normal gewesen.
Nie hätte Connor es für möglich gehalten, dass er einmal als
»behindert« gelten würde. Bis heute hatte er sich nicht daran
gewöhnt, obwohl bereits siebenhundertdreißig Tage vergangen
waren, seit ihn der Feuersturm in der Desolation Wilderness
überrascht hatte.
Er gehörte nach Tahoe, wo er den Flammen die Stirn geboten
hatte, und doch spürte er hier in der feuchtwarmen Luft am Seeufer
eine tiefe Verbundenheit mit Blue Mountain Lake. Er hatte
diesen Ort vermisst.
Er kehrte zu seinem Wagen zurück, griff sich seine Reisetasche,
warf sie sich über die Schulter und ging auf die Treppe zu,
die zur Veranda hochführte. Der mit Fliegengittern geschützte
Vorbau zog sich an der gesamten Vorderseite des Hauses entlang.
In seiner Kindheit hatte er sich am liebsten auf der Veranda
aufgehalten, wenn er nicht hatte hinausgehen können. Gut vor
Regen und Insekten geschützt, aber trotzdem an der frischen
Luft. Seine Großeltern hatten all ihre Mahlzeiten an dem alten
Küchentisch auf der Veranda eingenommen, und Connor selbst
hatte so manchen Frühsommermorgen genau dort gesessen und
seine Cornflakes gelöffelt, ohne sich weiter an der morgendlichen
Kälte zu stören. Er und Sam hatten sich stets geweigert,
etwas anderes als T-Shirts und Badehosen zu tragen, auch wenn
ab und zu eine Kaltfront über den See zog.
Als Connor die Treppe hochging, wäre eine der Stufen beinahe
unter seinem Gewicht entzweigebrochen. Während er sich
hinunterbeugte, um sich den Schaden genauer anzusehen, wurde
er von Schuldgefühlen gepackt – seine Großeltern hätten sich
hier ernsthaft verletzen können. Bei dieser Vorstellung zog Connor
besorgt die Stirn kraus. Er hätte in den Wintermonaten einmal
herkommen und nach dem Rechten sehen sollen. Aber für
ihn hatte das Feuer immer an erster Stelle gestanden.
Immer.
Der Gedanke nagte an ihm, also rief er sich lieber ins Gedächtnis
zurück, dass die Blockhütte ein solides Grundgerüst besaß.
Hundertmal hatte er die Geschichte zu hören bekommen, wie
sein Urgroßvater jeden einzelnen Holzstamm eigenhändig aus
dem dichten Fichtenwald geholt hatte, der nur wenige Hundert
Meter vom See entfernt begann. Doch der Zahn der Zeit nagte
irgendwann an jedem Gebäude, ganz gleich, mit wie viel Sorgfalt
es erbaut worden war.
Connor stieg die restliche Treppe hinauf, wobei er immer zwei
Stufen auf einmal nahm. Er war gespannt, was ihn wohl im Hausinneren
noch alles erwarten würde. Er streckte die Hand nach
dem Knauf der Fliegengittertür aus.
Und erstarrte.
Was zum Teufel?
Auf der Veranda stand eine Staffelei, vor der eine Frau mit einem
Pinsel in der Hand herumtanzte und dabei in den schiefsten
Tönen vor sich hin trällerte. Von ihren Ohren baumelten weiße
Kabel herab.
Alle paar Sekunden tauchte sie den Pinsel in ihre Farben und
machte einen weiteren ausladenden Strich auf der Leinwand.
Er konnte kaum glauben, was er da sah. Das Letzte, womit er
sich an diesem Tag auseinandersetzen wollte, war irgendeine
fremde,
singende Frau auf seiner Veranda.
Trotzdem musste er zugeben, dass sie ziemlich hinreißend
aussah, wie sie da schwungvoll einen Spritzer Farbe auf die Leinwand
gab und ihn mit dem Pinsel verstrich. Er war ihr nahe genug,
um erkennen zu können, dass sie unter ihrem roten Tanktop
keinen BH trug. Als sie sich mit einem Tuch über ihren verschwitzten
Hals und den Ausschnitt fuhr, erinnerte die Reaktion
seines Körpers Connor schmerzhaft daran, wie lange es her war,
seit er das letzte Mal eine Frau berührt hatte. Viel zu lange.
Sein Blick wanderte rasch über ihren Körper. Mit ihren orange
lackierten Fußnägeln, den kurzen Jeansshorts, aus denen braun
gebrannte Beine hervorschauten, und den mit einer Plastikhaarspange
hochgesteckten Locken bot sie ein äußerst verführerisches
Bild.
Es dauerte eine Weile, bis Connor sich aus dem Dunstschleier
seines Begehrens befreien konnte. An einem anderen Punkt in
seinem Leben wäre er vielleicht mit einem Lächeln auf die Frau
zugegangen und hätte seinen Charme spielen lassen. Aber er war
nicht an den See gekommen, um sich ein paar schöne Nächte
zu machen.
Für eine Frau war in diesem Sommer kein Platz, mochte sie
auch noch so verführerisch aussehen.
Was auch immer diese Frau dazu gebracht hatte, in sein Revier
einzudringen, sie sollte schleunigst wieder daraus verschwinden.
Heute war wirklich ein wunderschöner Sommertag, dachte
Ginger bei sich, während sie etwas Zinnoberrot mit Ozeanblau
mischte. Begonnen hatte sie ihn mit einem ausgedehnten Spaziergang
am Seeufer, dann hatte sie sich mit einem Bagel und
einem spannenden Liebesroman auf den Steg zurückgezogen
und war nun auf der Veranda der Blockhütte ganz in ihre Malerei
versunken.
Da der Popsong in ihrem Ohr sich gerade zum finalen Refrain
steigerte, hielt sie kurz inne, um in der Luft zu trommeln und
lauthals mitzusingen. Sie war so glücklich – wie losgelöst von allem.
Noch vor wenigen Monaten wäre so etwas nie und nimmer
möglich gewesen.
Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Exmann und all ihre
»Freunde« reagieren würden, wenn sie sie jetzt so sehen könnten.
In ihrem alten Leben als brave Ehefrau war sie eher zugeknöpft
gewesen, wenn auch stets schick frisiert und elegant zurechtgemacht
– obwohl sie niemals die Modelmaße besessen hatte,
für die ihre teuren Kleider entworfen worden waren. Einmal
abgesehen davon, dass ihr die Pfunde hartnäckig auf den Hüften
gesessen hatten, obwohl sie ständig nur Salat gegessen hatte, war
sie ein mustergültiges reiches Mädchen und später eine genauso
vorbildliche Ehefrau eines Geschäftsmannes gewesen.
Doch das war vorbei. In Blue Mountain Lake hatte sie endlich
ein neues Leben beginnen können.
Sie musste nicht länger dieser Mensch sein.
Zwar sammelte sie weiterhin Spenden für den Kunstunterricht
an der Schule in Blue Mountain Lake – aber das war
schließlich etwas, das ihr wirklich am Herzen lag. Außerdem
verspürte sie stets eine tiefe Befriedigung, wenn es ihr wieder
einmal gelungen war, jemanden davon zu überzeugen, für einen
guten Zweck etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Sie hatte ein
ausgesprochenes Talent dafür, Spenden einzutreiben. Zu Hause
hatten ihre Bekannten immer gescherzt – sollte sie nicht langsam
damit aufhören, diese Stadt ihr Zuhause zu nennen? –, dass
Ginger nur ein Zimmer voller Millionäre betreten musste, und
schon begannen diese, ihr all ihr Geld hinterherzuwerfen.
Durch ihr Engagement für die Schule in Blue Mountain Lake
hatten sich schnell Kontakte zu den Ortsansässigen ergeben. Dadurch
hatte sich Ginger nicht ganz so einsam gefühlt, als sie hier
ihr neues Leben begonnen hatte. Die Menschen im Ort waren
vielleicht nicht reich, aber dafür begeisterungsfähig. Und so war
Ginger inzwischen viel stärker in die Arbeit mit Kindern und
Eltern einbezogen worden, als sie ursprünglich vorgehabt hatte.
Eigentlich war sie ja nur zum Malen hergekommen.
An dem Tag, als sie in Poplar Cove eingezogen war, hatte
Ginger sich geschworen, nicht mehr zurückzublicken. Sie wollte
nur noch im Hier und Jetzt leben. Jeden Tag so nehmen, wie er
kam. Alles wäre einfach rundherum perfekt, wenn sie nur …
In der Stille zwischen zwei Liedern konnte sie eine Vogelmutter
hören, die ihrem Nachwuchs laut zwitschernd ihre Rückkehr
zum Nest ankündigte. Ginger beugte sich vor und beobachtete,
wie sich ein kleines Köpfchen aus dem Nest reckte. Als die
Mutter ihr Vogeljunges fütterte, sah es aus, als würden sich die
beiden einen Kuss geben.
Eine neue beschwingte Melodie begann, doch Ginger nahm
die Kopfhörer aus dem Ohr. Ihre Stimmung war dahin. Mit
leerem Blick starrte sie auf die Leinwand vor sich und statt der
Farben und Formen sah sie das niedliche Kleinkind vor sich,
das sie heute Morgen bei ihrem Spaziergang am Seeufer beim
Spielen im Sand beobachtet hatte.
Quietschvergnügt hatte das pausbäckige Mädchen mit einer
rosafarbenen Schaufel im Sand gebuddelt, die stämmigen Beinchen
hatten aus einem gepunkteten, ebenfalls rosafarbenen
Badeanzug hervorgelugt. Und obwohl die Mutter des Mädchens
müde, ja richtiggehend erschöpft ausgesehen hatte, hatte sie mit
einer tiefen Zufriedenheit ihrer kleinen Tochter beim Spielen
zugesehen.
Jeremy, Gingers Ehemann, hatte sie jahrelang vertröstet, was
die Kinderfrage betraf. »Irgendwann«, hatte er immer gesagt.
»Wir werden darüber sprechen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen
ist.«
Als Ginger endlich begriffen hatte, dass es den richtigen Zeit-
punkt für ihn niemals geben würde, und dass sie damit irgendwann
nicht mehr würde leben können, hatte sie auch der
Tatsache ins Auge sehen müssen, dass ihre Ehe zum Scheitern
verurteilt war.
In der letzten Zeit hatte sie sich oft gefragt, wann sie selbst
wohl ein Kind bekommen würde. Ob es überhaupt jemals dazu
käme. Schließlich kannte sie genügend Frauen, die bereits im
Alter von dreißig Jahren auf künstliche Befruchtung zurückgegriffen
hatten. Und da sie schon dreiunddreißig war, dachte
Ginger manchmal darüber nach, ob ihr nicht langsam die Zeit
davonlief.
Aber das war noch längst nicht alles. Wäre sie jetzt gerade in
einer ihrer »Eigentlich-sollte-ich-es-besser-wissen«-Phasen, die
üblicherweise auf einige Gläser Wein folgten, dann würde sie
sich eingestehen, dass sie nach wie vor von einem wunderbaren
Ehemann und einer Familie träumte. Zugegeben, ihre erste
Ehe war ein ziemlicher Fehlschlag gewesen. Aber das bedeutete
schließlich nicht, dass sie es nicht noch einmal versuchen konnte.
Vielleicht würde sie ja doch noch die Liebe finden, nach der sie
sich sehnte.
Hierin lag auch das einzige Problem, als Singlefrau in eine
Kleinstadt zu ziehen. Alleinstehende Männer – die nicht schon
das Seniorenmenü bestellten – waren hier eher dünn gesät.
Eine der übereifrigen Frauen aus dem Ort hatte versucht, sie
mit Sean Murphy zu verkuppeln, der mit seinem jüngeren Bruder
einen Gasthof in Blue Mountain Lake besaß. Leider hatte es
zwischen ihnen aber nicht gefunkt. Zwar sah Sean ziemlich gut
aus – groß, dunkelhaarig und mit ebenmäßigem Gesicht –, aber
er war doch eher der Typ großer Bruder gewesen, auch wenn
Ginger ihre gemeinsamen Dates wirklich genossen hatte.
Würde sie Blue Mountain Lake schon bald verlassen müssen,
nur um irgendwann doch noch eine Familie gründen zu können?
Sie seufzte. Vielleicht war es Zeit für eine neue Runde Eistee.
Schließlich war es verflucht heiß heute. Außerdem hatte sie nur
noch eine halbe Stunde zum Malen, bevor ihre Schicht im Restaurant
anfing. Und über eine ungewisse Zukunft nachzudenken
oder darüber, was hätte sein können, war reine Zeitverschwendung.
Sie sollte lieber ihr Singledasein genießen.
Gerade als Ginger den Pinsel zur Seite legen wollte, schwang
mit einem Mal die Fliegengittertür neben ihr auf.
Sie fuhr herum. Vor ihr im Türrahmen stand ein großer Mann
mit grimmigem Gesichtsausdruck, der sie aus schmalen Augen
anstarrte. Schlagartig bekam Ginger es mit der Angst zu tun.
Wie lange hatte er bereits da draußen gestanden? Hatte er sie
etwa beobachtet?
Sie hatte den Mann noch nie zuvor gesehen, da war sie ganz
sicher. Einen Typ wie ihn hätte sie sich gemerkt. Warum sah er
sie nur so wütend an, als ob sie ihm etwas getan hätte?
Oh Gott, ihre Eltern hatten sie immer vor so etwas gewarnt –
sie hielten es für leichtsinnig, dass Ginger ganz alleine tief im
Wald lebte. Die nächsten Nachbarn wohnten ziemlich weit weg,
so weit, dass sie nicht einmal ihre Schreie hören würden. Ein
absurder Gedanke kam ihr in den Sinn: Vielleicht bestand die
größte Gefahr für eine alleinstehende Frau in einer Kleinstadt
gar nicht darin, nicht den passenden Partner zu finden, sondern
ermordet zu werden.
Erschrocken rang sie nach Luft. Obwohl Ginger klar war, dass
sie sich diesen Muskelberg nicht mit einem Pinsel vom Leib
würde halten können, richtete sie diesen trotzdem wie eine
Waffe auf den Mann, der sie immer noch unverwandt anstarrte.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
Er machte einen Schritt auf sie zu, und die Tür krachte hinter
ihm ins Schloss. »Was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«
Sein Haus? Wovon redete er?
Hünenhaft und offensichtlich vollkommen verrückt. Eine ungünstige
Kombination. Sie steckte wirklich in Schwierigkeiten.
Das Telefon war zu weit weg, um einen Freund oder gar die
Polizei alarmieren zu können. Blieb ihr also nichts weiter übrig,
als die toughe Frau zu mimen?
Dann war sie wirklich erledigt.
»Runter von meiner Veranda!«, knurrte sie drohend, während
sie den Pinsel wie ein Messer über den Kopf hob. In diesem
Moment brach die Sonne hinter den Wolken hervor und tauchte
seinen Oberkörper in gleißendes Licht.
Sie musste ein Keuchen unterdrücken. Zunächst hatte sie
seine Arme und Hände gar nicht so genau sehen können, doch
jetzt war sie nicht mehr imstande, den Blick abzuwenden. Seine
Haut, die unter den kurzen Ärmeln zum Vorschein kam, sah
schrecklich aus: Sie war mit geröteten Striemen überzogen, wie
von Peitschenhieben. In dem funkelnden Sonnenlicht, das durch
die Fliegengitter der Veranda fiel, hatte sie beinahe den Eindruck,
das rohe Fleisch vor sich zu sehen. Er musste furchtbare
Schmerzen haben.
»Um Himmels willen, was ist mit Ihnen geschehen?« Sie ließ
den Pinsel sinken und ging auf ihn zu.
Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich daraufhin noch mehr,
wenn das überhaupt möglich war. »Mir geht es gut.«
Sie trat noch näher an ihn heran. Wahrscheinlich stand er
unter Schock und verdrängte seine Schmerzen.
»Sie müssen nicht so tun, als ob alles in Ordnung ist. Ich sehe
doch an Ihren Armen, dass …«
Inzwischen war Ginger nur noch ein oder zwei Meter von dem
Mann entfernt, nahe genug, um das ganze Ausmaß seiner Verletzungen
erkennen zu können. Als sie endlich begriff, was sie da
sah, schluckte sie ihre restlichen Worte hinunter.
Sie hatte sich geirrt. Ja, er war verletzt worden. Schwer ver-
letzt. Doch das war nicht gerade eben geschehen. Es handelte
sich um alte Wunden.
Seine Stimme klang tief und kalt. »Ich habe mir die Verbrennungen
vor zwei Jahren zugezogen. Inzwischen geht es mir
wieder gut.«
Sie biss sich auf die Lippe. Nickte. »Ah. Ja. Jetzt kann ich es
auch sehen. Es war nur so, als die Sonne direkt auf Sie fiel, da
dachte ich …« Besser, sie sagte gar nichts mehr. Sie hatte sich
ohnehin schon tief genug reingeritten. »Es tut mir leid. Ich wollte
kein so großes Aufhebens um Ihre … Narben machen.«
Die peinliche Stille nach ihrem schrecklichen Gestammel
hielt viel zu lange an. Es war kaum zu ertragen. Er fand garantiert
nichts schlimmer als Menschen, die wegen seines Aussehens
ausflippten. Und sie war ja schon drauf und dran gewesen, ihn
zu verarzten.
Auch wenn es sie nichts anging, fragte sie sich doch die ganze
Zeit, wie er sich wohl dermaßen starke Verbrennungen hatte
zuziehen können.
»Ich bin Connor MacKenzie«, brach er schließlich das Schweigen.
»Das hier ist mein Haus. Eigentlich sollte es leer stehen.
Ich bin gerade von Kalifornien hergeflogen. Es sollte eigentlich
niemand hier sein.«
Der Name sagte ihr etwas. »Sind Sie mit Helen und George
MacKenzie verwandt?«
»Das sind meine Großeltern.«
Ginger seufzte erleichtert auf. Also war er doch kein Serienmörder,
sondern mit den Besitzern des Hauses verwandt.
»Ich heiße Ginger. Kommen Sie doch rein.« Sie lächelte zaghaft.
»Vielleicht können wir ja noch einmal von vorne beginnen.
Möchten Sie ein Glas Eistee?«
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Woher kennen Sie meine
Großeltern?«
War ihm bewusst, dass jedes seiner Worte wie eine Anschuldigung
klang? Als hätte er irgendwelche großen Pläne gehabt, die
sie durchkreuzt hatte, nur weil sie keine Ahnung gehabt hatte,
wer da vor ihr stand.
»Ich habe das Häuschen von ihnen gemietet. Haben sie Ihnen
das nicht gesagt?«
Der Mann starrte sie weiterhin wütend an, und sie beschlich
das ungute Gefühl, dass er ihr nicht glaubte.
»Nein.«
Früher hätte ein so großer, starker und wortkarger Mann sie
wahrscheinlich derart eingeschüchtert, dass sie weiche Knie
bekommen und am ganzen Körper zu zittern begonnen hätte.
Doch glücklicherweise hatte sich im letzten Jahr so einiges geändert
– außerdem hatte sie schließlich nichts verbrochen. Und,
um ganz ehrlich zu sein, war sie keineswegs in der Stimmung,
sich herumschubsen zu lassen.
»Warten Sie hier.« Eine Minute später kehrte sie mit dem
unterschriebenen Mietvertrag zurück. »Da, sehen Sie.«
Er nahm ihr die Unterlagen ab und las sie sich aufmerksam
durch. So konnte sie ihn das erste Mal eingehend betrachten:
Er hatte goldbraunes Haar und stark gebräunte Haut. Er besaß
dichte Wimpern, volle Lippen und ein markantes Kinn, auf dem
ein leichter Bartschatten lag.
Da Ginger sich nicht länger von ihm bedroht fühlte, erlaubte
sich ihr Körper, auf sein attraktives Äußeres anzusprechen.
Und auf die unglaublich starke Energie, die von ihm ausging.
So von Nahem betrachtet war er nicht nur verblüffend gut aussehend,
sondern auch noch größer, als sie zunächst angenommen
hatte. Was sich da in ihr breitmachte, wenn sie seinen kräftigen
Oberkörper, die schmale Taille, den gewaltigen Bizeps und die
festen Bauchmuskeln betrachtete, die sich unter seinem T-Shirt
abzeichneten, fühlte sich beunruhigenderweise wie heftiges Begehren
an.
So versunken, wie sie in seinen Anblick war, bekam sie
gar nicht gleich mit, dass er sie ebenfalls anstarrte. Sein Blick glitt
gemächlich von ihrem Gesicht zu den kaum verhüllten Brüsten
hinab, dann weiter über ihre Hüften bis zu den Beinen, bevor er
wieder nach oben wanderte.
Da erst wurde Ginger bewusst, was sie anhatte. Oder vielmehr,
wie knapp sie bekleidet war.
Normalerweise würde sie niemals ohne BH auf die Straße
gehen, doch hier war sie in ihrem Zuhause, also konnte sie anziehen,
was sie wollte. Das war es schließlich, was sie so daran
schätzte, alleine zu leben. Sie konnte genau das tun, wonach ihr
der Sinn stand, und anziehen, worauf sie Lust hatte.
In der Stadt hatten weder abgeschnittene Jeans noch Tanktops
einen Platz in ihrer Garderobe gehabt. Hier am See schoss
die Temperatur jedoch gerne mal auf knapp dreißig Grad hoch,
während die Luftfeuchtigkeit in Erwartung des nächsten Regenschauers
ebenfalls anstieg. Außerdem mochte sie den künstlerisch
lässigen Touch, den ihr die Jeansshorts verliehen, besonders
wenn sie dabei war, sich mit Farbe zu bekleckern.
Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass ein wildfremder Mann
sie so überrascht hatte – und noch viel weniger gefiel ihr die Tatsache,
dass er den Anblick wahrscheinlich insgeheim genossen
haben dürfte. Deshalb verschränkte sie rasch die Arme vor der
Brust, um der Peepshow ein Ende zu bereiten. Aber dann fiel
ihr auf, dass er ihr den Mietvertrag noch nicht zurückgegeben
hatte, also musste sie ihre schützende Haltung doch noch einmal
kurz aufgeben, um eine Hand nach den Unterlagen auszustrecken.
Er hielt sie jedoch weiterhin so fest, dass das Papier Knicke
bekam. Verdammt, die wenige Zeit, die Ginger noch zum Malen
verblieben war, näherte sich bereits ihrem Ende. Sie war wirklich
nicht in der Stimmung für irgendwelche Spielchen.
Ginger setzte die strenge Miene auf, die sie normalerweise für
Milliardäre reserviert hatte, die »vergaßen«, ihre vorher öffentlich
bekundete Spendenabsicht auch einzuhalten. Damit brachte
sie solche Typen meist dazu, sich vor Angst in ihre Designerhosen
zu machen. »Jetzt, da Sie Ihren Beweis haben, würde ich
Sie darum bitten, mir den Mietvertrag wieder zurückzugeben«,
sagte sie mit fester Stimme.
Doch dieser Kerl zeigte keine Regung, sondern sah sie einfach
weiter aus diesen tiefblauen Augen an. Und sie war sich fast
sicher, eine Art Kampfansage darin erkennen zu können.
Überraschenderweise ließ sein Blick ihr Herz höher schlagen.
Wahrscheinlich handelte es sich um eine instinktive Reaktion
auf sein umwerfendes Aussehen und die Bedrohung, die er offensichtlich
für ihren traumhaften Sommer am See darstellte.
»Wie schön für Sie«, sagte er gedehnt, »dass Sie den ganzen
Sommer hier verbringen können.«
Ginger war nicht darauf vorbereitet, welche Empfindungen
seine tiefe, raue Stimme in ihr auslösen würde. Verführerisch
strömte sie durch ihre Adern, bis sie das Gefühl hatte, ihr würde
der Verandaboden unter den Füßen weggezogen. Wie war
das möglich? Er hatte doch kaum mehr als einen Satz von sich
gegeben!
Bislang hatte er einen unversöhnlichen Eindruck gemacht.
Unnachgiebig. Als könne man keineswegs mit ihm verhandeln.
Doch da sie ihren Anspruch auf das Haus inzwischen geltend
gemacht hatte, sah es so aus, als hätte er seine Taktik geändert
und versuchte nun, sie mit der geballten Kraft seiner erotischen
Ausstrahlung in die Knie zu zwingen.
Tja, aber nur weil ihr gefiel, was sie sah (man müsste sie schon
sämtlicher Hormone ihres Körpers berauben, um daran etwas zu
ändern), bedeutete das noch lange nicht, dass sie darauf hereinfallen
würde. Für diese Form der Beeinflussung war sie unempfänglich.
Jedenfalls größtenteils.
»Sie haben recht«, stimmte Ginger ihm zu. Obwohl es eigentlich
gar nicht ihre Art war, konnte sie es sich nicht verkneifen,
triumphierend hinzuzufügen: »Es ist einfach atemberaubend.«
Er ließ den Blick über den See schweifen. »Hier gibt es nur
wenige Häuser mit einer solchen Aussicht. Mein Großvater hat
immer gesagt, dieser Teil des Seeufers sei nicht mit Gold aufzuwiegen.«
Als er sich wieder zu ihr umwandte, war einer seiner Mundwinkel
leicht nach oben gezogen, was sie unter anderen Umständen
als Anflug eines Lächelns gedeutet hätte. Aber im Augenblick
wirkte sein Gesichtsausdruck eher höhnisch.
»Ich frage mich nur eins: Wie konnten Sie wissen, dass meine
Großeltern die Absicht hatten, die Hütte zu vermieten, wenn sie
das doch nicht einmal ihrer eigenen Familie mitgeteilt hatten?«
Ein unfairer Zug. Oh nein, das würde sie ihm nicht so einfach
durchgehen lassen. Ginger Sinclair ließ sich nicht mehr
von anderen Leuten in die Pfanne hauen. Und dieser Typ gab
eindeutig zu viel Mist von sich.
»Wollen Sie mir irgendetwas unterstellen?«
Der Anflug des Lächelns, das doch keines war, verschwand aus
seinem Gesicht. »Nur, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen haben.«
Himmel Herrgott noch eins. Was war nur los mit den gut aussehenden
Kerlen? Waren sie vielleicht so sehr daran gewöhnt,
immer ihren Willen zu bekommen, dass sie dachten, sie könnten
tun und lassen, was sie wollten, und einfach alles sagen, was
ihnen gerade in den Sinn kam? Jemand hätte ihm schon längst
mal eine Lektion erteilen sollen. Diese Aufgabe sollte nun offenbar
ihr zufallen.
Sie verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln, das dem
glich, mit dem er sie gerade bedacht hatte, und sagte: »Da ich
bereits seit acht Monaten hier lebe, ohne dass Sie davon erfahren
haben, ist Ihr letztes Schwätzchen mit den lieben Großeltern anscheinend
schon eine Weile her. Sieht also ganz so aus, als wäre
nicht ich diejenige, die ein schlechtes Gewissen haben sollte.«
Sie bereitete sich innerlich auf seine nächste Parade vor, doch
er funkelte sie nur düster an, so wie vorhin. Aber dieses Mal
wirkte er weniger wütend als vielmehr fasziniert. Gingers Puls
begann zu rasen, bis ihr leicht schwindelig wurde. Was hatte
dieser Kerl nur an sich, das ihren Körper dazu brachte, sich so
gegen sie zu wenden?
Es musste an dieser schwülen Hitze liegen. Das ganze Herumgetanze
auf der Veranda hatte ihren Elektrolythaushalt aus dem
Gleichgewicht gebracht. Wahrscheinlich litt sie unter Flüssigkeitsmangel.
Das war alles.
»Sie haben recht«, sagte er dann. »Ich sollte sie mal wieder
anrufen.«
Ginger traute ihren Ohren kaum. Hatte er ihr wirklich zugestimmt?
Gut, dann wäre das also erledigt. Da nun alles geklärt
war, würde er endlich verschwinden und sie in Ruhe lassen.
Wunderbar.
Sie konnte es kaum erwarten.
Aber dann fiel ihr Blick auf die große Reisetasche zu seinen
Füßen. Offensichtlich hatte er vorgehabt, die Nacht hier im Haus
zu verbringen, weil er davon ausgegangen war, es stünde leer.
Das bedeutete wohl auch, dass er nirgendwohin konnte.
Oh nein.
Als sie wieder nach oben schaute, nahmen seine blauen Augen
sie auf der Stelle gefangen.
Ganz sicher nicht.
Diese Blockhütte gehörte nur ihr allein. Von der Uhr, die im
Wohnzimmer über dem Kamin hing, drangen vier Kuckucksrufe
zu ihnen herüber. Ginger konnte ihre Wut nicht länger im
Zaum halten – er hatte ihr diesen wunderschönen Tag komplett
verdorben!
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, dass Sie davon ausgegangen
sind, hier würde niemand wohnen, aber ich habe den Mietvertrag
über ein ganzes Jahr abgeschlossen. Sie müssen sich also
eine andere Bleibe suchen.« Für heute Nacht und auch danach,
vielen Dank. »Und wenn ich mich nicht bald auf den Weg mache,
komme ich zu spät zur Arbeit, also …«
Sie schaute zur Tür, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass
er langsam verschwinden sollte.
Er nickte, nahm seine Tasche und sagte: »Okay.«
Die ganze Zeit hatte Ginger unwillkürlich den Atem angehalten.
Doch als sie jetzt erleichtert ausatmete, setzte er hinzu:
»Ich werde morgen wiederkommen. Dann können wir uns eine
Lösung überlegen, mit der wir beide leben können.«
Wie bitte? Er wollte wiederkommen?
Sie hätte sich denken können, dass ein Mann wie er sich nicht
so leicht geschlagen geben würde.
»Zum allerletzten Mal: Mein Mietvertrag gilt für den gesamten
Sommer. Auf Wiedersehen.«
So. Noch deutlicher ging es nicht.
Er machte jedoch immer noch keine Anstalten zu gehen. Stattdessen
ließ er den Blick über die Hütte gleiten, bis er gefunden
hatte, wonach er suchte. Er ging zu einem der dicken Stämme
hinüber, die die Wand zwischen Veranda und Wohnzimmer
bildeten. Ohne Vorwarnung rammte er die Faust hinein.
Ginger unterdrückte einen überraschten Aufschrei. »Was zum
Teufel tun Sie da?«, fragte sie.
Seelenruhig wischte er mit den Fingerspitzen einige der herausgebrochenen
Holzspäne beiseite.
»Sehen Sie das?«
Sie atmete tief durch. »Sie haben gerade ein Loch ins Holz
geschlagen.«
Ein genau faustgroßes Loch. Wie stark musste er sein, um so
heftig zuschlagen zu können, ohne auch nur mit der Wimper zu
zucken?
»Dieser morsche Stamm stellt nur eine von bestimmt einem
ganzen Dutzend Möglichkeiten dar, wie das Haus über Ihnen
einstürzen könnte.« Er drehte sich wieder zu ihr um und hob
eine Augenbraue. »Ich bin mir sicher, meine Großeltern werden
sich gerne bereit erklären, Ihnen Ihre Miete zurückzuerstatten.«
Ihr Herz pochte immer noch wie wild, weil sein Schlag gegen
den Pfeiler sie derart erschreckt hatte. Aber sie war wild entschlossen,
sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen.
»Ich gehe nirgendwohin.«
»Dann werden wir uns morgen weiter unterhalten.«
Hinter ihm flog die Fliegengittertür krachend ins Schloss.
Ginger konnte nicht anders, sie musste zu dem Holzstamm hinübergehen,
um sich das Loch genauer anzusehen. Auch wenn
es sie noch so sehr wurmte – als sie die eigene kleine Faust in das
Loch hielt, sah sie ihren Rückzugsort auf einmal mit anderen
Augen.
Sie war verunsichert.

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