Leseprobe zu: Im Netz der Angst

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Unverkäufliche Leseprobe


Anrufe um zwei Uhr morgens bedeuteten nie etwas Gutes. Deswegen
erwachte Aimee Gannon auch mit einem beklemmenden
Gefühl in der Brust, als sie Montagnacht von ihrem über den
Nachttisch tanzenden Handy geweckt wurde.
Ein Albtraum hatte sie fest im Griff gehabt, und obwohl sie
dagegen angekämpft hatte, war es ihr nicht gelungen, sich einenWeg
zurück in die Wirklichkeit zu bahnen. Fast war sie erleichtert,
von dem Anruf aus diesem Schwebezustand befreit zu
werden, obwohl sie sich wie gerädert fühlte. Während sie sich
aufrichtete, tastete sie nach dem Telefon und klappte es auf.
»Dr. Gannon.«
»Dr. Gannon, hier spricht Detective Josh Wolf vom Sacramento
Police Department.«
Die Polizei? »Was kann ich für Sie tun, Detective?« Aimee
schwang die Beine aus dem Bett, bis sie mit den Füßen auf das
kühle Holz des Fußbodens traf. Weshalb um alles in der Welt
rief ein Polizist sie mitten in der Nacht an? Sie streckte sich, versuchte
die verspannten Nackenmuskeln zu lockern und bereitete
sich darauf vor, zu erfahren, wer in Schwierigkeiten steckte und
weshalb.
»Wir haben eine ihrer Patientinnen in Gewahrsam und ich
hatte gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können. Die junge Frau
verhält sich momentan nicht gerade sehr … kooperativ«, sagte
der Mann, dessen tiefe Stimme immer wieder wegbrach, sobald
die Verbindung schwächer wurde.
Nicht sehr kooperativ und in Polizeigewahrsam – das klang
nach großen Schwierigkeiten. Sprach er etwa von Janelle? Sie
war eine Trinkerin mit einer Menge Wut im Bauch, und Auseinandersetzungen
zwischen betrunkenen Streithähnen in einer
Bar endeten durchaus öfter im Gefängnis. Oder ging es um Gary,
ihren Sexabhängigen? War er etwa bei einer Razzia im Rotlichtmilieu
aufgegriffen worden? Halt – nein, der Polizist hatte Patientin
gesagt. »Von wem sprechen Sie, Detective?« Aimee rieb
sich den Schlaf aus den Augen.
»Das Mädchen heißt Taylor Dawkin«, antwortete Wolf.
Aimee schoss in die Höhe. »Taylor? In Gewahrsam?« Verdammt!
Wenn Taylor auch jede Menge Probleme mit sich herumschleppte,
war Aimee doch davon ausgegangen, dass sie in
letzter Zeit Fortschritte gemacht hatten. Große Fortschritte.
»Können Sie vorbeikommen?«, fragte Wolf, ohne auf ihre Äußerung
einzugehen. »Sie ist im Mercy General untergebracht.«
»Im Krankenhaus? Weshalb – ist sie verletzt?« Aimee klemmte
das Handy zwischen Schulter und Wange und zerrte eine Jeans
aus der Kommode.
»Das würde ich Ihnen lieber persönlich erklären«, sagte Wolf
mit einem seltsamen Unterton, den sie wegen der schwachen
Verbindung schlecht deuten konnte.
Verflucht! Von ihm würde sie nichts weiter erfahren. »Sind
ihre Eltern schon da? Kann ich mit ihnen sprechen?« Taylor war
erst siebzehn. Ihr Verhältnis zu Orrin und Stacey war so schlimm,
wie es bei einem Mädchen im Teenageralter nur sein konnte.
Trotzdem waren sie bestimmt bei ihr im Krankenhaus.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. »Das geht im
Moment nicht. Ich schicke einen Einsatzwagen, der Sie abholt.
In zehn Minuten könnte jemand bei Ihnen sein.«
Aimee erstarrte. Nicht möglich – was zum Teufel sollte das
nun wieder bedeuten? »Hat Taylor irgendetwas angestellt? Ist
sie festgenommen worden?«
Nach einer erneuten kurzen Pause sagte er: »Das würde ich
Ihnen wirklich lieber persönlich erklären.« Wolfs Ungeduld war
trotz der schlechten Verbindung deutlich herauszuhören. »Soll
ich einen Beamten losschicken, der Sie abholt?«
»Ich kann selbst fahren, Detective«, erwiderte Aimee knapp,
während sie ein Trägertop aus der obersten Schublade fischte.
Geduld gehörte auch nicht gerade zu ihren Stärken. »Geben Sie
mir fünfunddreißig Minuten.« Sie legte auf.
Das grelle Neonlicht im Badezimmer fuhr ihr stechend in die
Augen. Sobald sie das leise Surren der Röhren hörte, verspanntesich
ihre Nackenmuskulatur wieder. Sie band das Haar zum
Pferdeschwanz, putzte sich rasch die Zähne, zog einen Kapuzenpullover
an und warf noch eine Jeansjacke über. Gestern Nachmittag
war es zwar noch recht warm gewesen, aber nachts kühlte
es merklich ab und im Krankenhaus war es bestimmt eiskalt.
Vor der Haustür atmete Aimee einmal tief durch. Mitten in
der Nacht allein in die Tiefgarage gehen zu müssen, machte ihr
Angst und sie hasste sich dafür, denn Taylor brauchte sie jetzt.
Nicht unterkriegen lassen! Du kannst die Angst besiegen!
Sie verschloss die Tür und nahm den Fahrstuhl in die Tiefgarage.
Obwohl sie Turnschuhe trug, hallten ihre Schritte durch die
verlassenen Reihen. Das helle Licht warf tiefschwarze Schatten,
die nach Aimee zu greifen schienen, und sie hatte das Gefühl,
von der niedrigen Decke erdrückt zu werden. Während sie hinter
sich blickte, drückte sie auf ihren elektronischen Autoschlüssel,
woraufhin ihr Subaru ihr zur Begrüßung zweimal freundlich
zupiepte.
Sie stieg ein und verriegelte sofort wieder von innen
die Tür, dann erst konnte sie wieder ruhig atmen. Diese gesicherte,
von außen nicht zugängliche Garage war einer der Gründe
gewesen, warum sie sich nach der Trennung von Danny für diese
Eigentumswohnung entschieden hatte. Hier war sie nicht in
Gefahr.
Dennoch erschauerte sie beim Anblick all der dunklen Häuser
auf ihrem Weg die 18. Straße entlang bis zur J-Street und
dann weiter in Richtung Osten. Aimee ermahnte sich, dass ihre
eigenen Probleme viel kleiner waren als das, was auch immer
eine bereits schwer traumatisierte Jugendliche ins Krankenhaus
gebracht haben mochte, wo anscheinend niemand außer der
Polizei auf sie aufpasste.
Sie trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Detective Josh Wolf klappte sein Handy zu. Die Seelenklempnerinschien
nicht gerade erfreut über die nächtliche Störung, hatte
aber immerhin versprochen, ins Krankenhaus zu kommen. Das
war nicht mehr als der sprichwörtliche Strohhalm, doch etwas
anderes blieb ihm nicht übrig. Wer könnte das bloß getan haben?
Und warum?
Er senkte den Blick zu den beiden Leichen vor sich auf dem
Boden, deren Hände hinter den Rücken mit Klebeband gefesselt
waren, auch der Mund war ihnen zugeklebt worden. Dem Mann
hatte jemand von hinten den Schädel eingeschlagen, höchstwahrscheinlich
mit der blutverschmierten Lampe, die neben ihm
lag. Die Frau war eindeutig erwürgt worden. Allerdings wusste
er noch nicht, womit die leicht übergewichtige, blonde Frau mit
dem grauen Haaransatz erdrosselt worden war; der Mörder hatte
die Tatwaffe nicht zurückgelassen. Behielt er sie als Erinnerungsstück
oder weil sie ihn belasten könnte? Josh rieb sich mit der
Hand das Kinn. Das würde eine lange Nacht werden.
Stroboskopartiges Blitzlicht erhellte die Szenerie und verstärkte
den ohnehin schon grauenerregenden Anblick, den das
Wohnzimmer bot. Spurensicherungskräfte und Fotografen wuselten
umher und suchten in jeder Ecke nach Hinweisen darauf,
wer das verbrochen haben könnte. Alles war mit Blutspuren und
Fingerabdrücken übersät. In der Auffahrt befand sich ein wildes
Muster aus Reifenabdrücken. Jemand hatte eine leere Weinflasche
zerschlagen. In den Büschen vor der Haustür lag ein Haufen
Zigarettenstummel, ganz in der Nähe war eine Kotzlache. Es
gab zahlreiche Fußabdrücke. Mit der Sichtung und Auswertung
all dieser Spuren könnten er und Elise wochenlang beschäftigt
sein. Sein einziger Anhaltspunkt schien das Mädchen zu sein,
doch es war nicht in der Verfassung, ihm weiterzuhelfen.
»Nicht schlecht, die Bude.« Elise Jacobs, Joshs Partnerin,
schaute sich in dem großen Wohnzimmer um.
Sie hatte recht. Trotz der ins Bodenlose gefallenen Immobilienpreise
in Kalifornien war dieses Haus immer noch einen Haufen
Geld wert. Beste Lage im sogenannten Pocket, einem westlich
von der Interstate 5 gelegenen Vorort von Sacramento, der sich
in eine halbkreisförmige Biegung des Flusses schmiegte. Ein
gepflegtes Gebäude im Pseudo-Tudorstil, mit großem Grundstück
und einem Pool hinten im Garten. Die Küche war ganz in
Edelstahl und Granit gehalten, und jedes der Badezimmer groß
genug, dass eine ganze Familie darin leben könnte. So etwas
wurde heute überhaupt nicht mehr gebaut. Josh hatte einen Bauunternehmer
zum Cousin und wusste deswegen ganz genau, dass
dieses Haus ein Vermögen gekostet haben musste.
»Erklär mich für verrückt, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir
die Farbauswahl zusagt.« Josh lächelte Elise ironisch zu. Sie war
eine der wenigen, die seinen Galgenhumor verstand.
»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte sie mit Blick auf die
blutverschmierten Wände. »Da hat sich jemand richtig Mühe
gegeben, aber geholfen hat es ab-so-lut nicht.«
»Wohl wahr«, erwiderte Josh. Eine Reihe geometrischer Figuren
bedeckte die Wände des Raumes. Sie formten immer wieder
dasselbe Muster: ein langgezogenes niedriges Rechteck, das in
drei Teile untergliedert war, daneben ein Kreis und ein weiteres
dreigeteiltes Rechteck.
»Irgendeine Ahnung, was das bedeuten könnte?« Elise, deren
Füße in Plastikschonern steckten, trat noch einen Schritt vor.
»Keinen blassen Schimmer.« Auch Josh rückte näher heran,
um sich die Schmierereien genauer anzusehen. Handelte es sich
um eine Botschaft? Von dem Mörder? Wäre ja nicht das erste
Mal, dass ein Verbrecher die Polizei auf diese Art verspottete.
Josh hatte Zodiac gesehen und der Film war ihm sehr nahegegangen,
da er einem realen Fall, der gar nicht mal weit weg von
hier stattgefunden hatte, nachempfunden war.
Elise wandte sich kopfschüttelnd ab – wie um die Bilder aus
ihrem Inneren zu verscheuchen. »Weiß man schon, was aus dem
Mädchen werden soll?«
»Sie wurde mit einem Sicherheitsbeamten in die Notaufnahme
des Mercy gebracht. Im UC-Davis hatten sie bereits Schusswunden
zu versorgen, und sie schien mir kein Fall für die Unfallklinik
zu sein. Davon bin ich jedenfalls ausgegangen. Schwer zu
sagen.«
Jedenfalls solange sie nicht herausgefunden hatten, ob das mit
Blut besudelte Mädchen, das sich ständig vor- und zurückwiegte
und dabei nur unverständliches Zeug vor sich hinmurmelte,
einen Anwalt für Opfer von Gewaltverbrechen oder aber einen
Verteidiger brauchte. Möglicherweise beides.
»Ich hab die Seelenklempnerin angerufen«, sagte Josh.
»Gut.« Elise nickte. »Auf die sanfte Tour erfahren wir vielleicht
eher, was wir wissen wollen.«
Josh hockte sich neben die beiden Leichen, die genau hier,
an Ort und Stelle, umgebracht worden waren. Das verrieten
ihm die Form der Blutlachen unter den Körpern sowie die Anordnung
der versprenkelten Gehirnmasse und der Blutstropfen
auf Teppichboden, Möbeln und Wänden. Wer immer das hier
getan hatte, war wohl auch nicht mehr ganz unbefleckt. Es war
unmöglich, jemandem so den Schädel einzuschlagen, ohne da-
bei selbst etwas abzubekommen. Geisterte vielleicht in diesem
Moment jemand mit dem Blut eines anderen Mannes auf den
Klamotten durch Sacramento?
Josh stand auf. »Einstweilen gewinnt der Täter zusätzliche
Zeit, um seine Spuren zu verwischen.«
Elise hob beide Hände. »Die Psychologin ist einen Versuch
wert und irgendwo müssen wir schließlich anfangen. Übrigens
gibt es weder an den Türen noch an den Fenstern Hinweise
darauf, dass sich jemand gewaltsam Eintritt verschafft hätte.
Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, spazierte einfach so
durch die Haustür.« Seufzend ließ sie den Blick über den Tatort
schweifen.
Josh blickte sich ebenfalls um: überall potenzielle Beweismittel!
Das Problem daran war, die tatsächlichen Hinweise von den
Überresten einer ganz gewöhnlichen Familie zu unterscheiden,
die hier ein ganz gewöhnliches Leben geführt hatte, bis irgendjemand
dem mit unvorstellbarer Gewalt ein Ende bereitet hatte.
Es sei denn, dieser Jemand hatte bereits hier gewohnt oder
denjenigen hereingebeten, der das getan hatte. Dann wäre es
noch schwieriger, herauszufinden, was wie einzuordnen war.
Deswegen auch der Anruf bei der Seelenklempnerin.
Josh war bereits kurz davor gewesen, das Mädchen zu schütteln,
um ihm Vernunft beizubringen. Elise hatte jedoch vorgeschlagen,
die Therapeutin zu kontaktieren, um auf sanftere,
freundlichere Art herauszubekommen, was sie wissen wollten.
Und wäre das nicht mal eine schöne Abwechslung?
Er war zu allem bereit, wenn das Mädchen bloß anfing zu reden.
Solange er nicht wusste, ob es sich bei der blutüberströmten
jungen Frau am Schauplatz der Ermordung ihrer Eltern um
ein weiteres Opfer, eine Zeugin oder seine Hauptverdächtige
handelte, konnte er lange herumrätseln, wie er weiter vorgehen
sollte.
»Das Mädchen hätte sich nicht gewaltsam Eintritt verschaffen
müssen«, sagte er. »Sie lebt hier. Sie hatte einen Schlüssel.«
Elise strich sich das schlicht nach hinten zum Zopf gebundene
Haar glatt. »Ich gehe mal davon aus, dass ein Kind niemals in der
Lage wäre, seinen Eltern so etwas anzutun.«
»Das wissen wir beide besser.« Ihre Blicke trafen sich. Denn
das waren nicht bloß leere Worte. Obwohl er sich wünschte, dem
wäre nicht so. Josh war sich nicht sicher, ob der verzweifelte Ausdruck
in Elises Augen, der seine eigenen Gefühle widerspiegelte,
die Sache noch schlimmer machte oder ihn tröstete.
»Dennoch ist die Brutalität außergewöhnlich«, bemerkte Elise.
»Und das Mädchen ist nicht besonders groß. Bestimmt nicht
viel größer als eins dreiundsechzig und noch dazu ziemlich dürr.
Schwer vorstellbar, dass sie die beiden so zusammenschnürt, ihrem
Vater den Schädel einschlägt und die Mutter erwürgt. Dazu
bräuchte es jemand Großen, Starken.«
»Oder irgendwen mit einer Waffe. Sie könnte denjenigen ins
Haus gelassen haben, der die Drecksarbeit für sie erledigt hat.
Wer auch immer es war, hatte jedenfalls keinerlei schlechtes
Gewissen.« Der Mörder hatte die Leichen wie ausrangierte Puppen
auf den Teppich fallen lassen. Von Reue geplagte Gewalttäter
versuchten meist, die Leichen zu verstecken oder so zu
drapieren, dass ihnen eine Blöße erspart blieb. Dieser Mörder
hingegen hatte sie wie Abfall weggeworfen, als er mit ihnen fertig
gewesen war.
»Kein Versuch einer Wiedergutmachung; du hast recht.«
Elisenickte.
»Meinst du nicht, eine Tochter würde sich zumindest
schuldbewusst zeigen?«
»Möglich. Muss aber nicht sein.« Josh zuckte mit den Schultern.
»Lässt sich nicht sagen, was in der hier vorgeht.«
Das war noch untertrieben. Das Mädchen hatte einfach nur
vor- und zurückschaukelnd dagehockt und leise vor sich hin ge-
wimmert. Bis auf seine Versuche, die Sanitäter abzuwehren, die
es auf die Trage schnallen wollten, hatte es auf keinen Menschen
reagiert.
Josh blickte auf die Uhr. »Die Therapeutin müsste in einer
halben Stunde im Mercy eintreffen. Wir sollten hier in fünfzehn
Minuten losfahren, um vor ihr da zu sein.«
»Vielleicht wird es uns weiterhelfen, zu erfahren, weshalb die
Kleine bei ihr in Behandlung war.« Elise trommelte mit dem Stift
auf ihrem Notizbuch herum.
Eindeutig – das könnte ein Ausgangspunkt für ihre Ermittlungen
sein! Genau wie die Tatsache, dass sie blutverschmiert
am Tatort aufgefunden worden war. Josh wiegte den Kopf hin
und her. Rechtfertigte eine verkorkste Kindheit einen Doppelmord?
Nicht, wenn es nach ihm ging. Auf keinen Fall!
»Ich habe die Klebebandrolle gefunden«, sagte einer der Kriminaltechniker,
ein junger Latino mit gepiercter Augenbraue.
»Dort drüben!«
Die Detectives folgten ihm den Flur entlang bis zu einem
Hobbyraum. In der Ecke stand eine Nähmaschine, unter deren
Fuß noch ein Stückchen Stoff klemmte. Neben einem gemütlichen
Sessel war ein Korb voller Wollknäuel, in denen Stricknadeln
steckten, abgestellt. Verflucht! Hatte Stacey Dawkin etwa
gerade gestrickt, als jemand eingedrungen war und sie umgebracht
hatte? Joshs Mutter strickte.
Der kleine, an die Wand montierte Fernseher lief noch. Und
zwar ziemlich laut. »Notieren Sie sich den Kanal und die Lautstärke
und stellen Sie den Scheiß ab!«
Eine Rolle Klebeband lag auf der Anrichte neben dem Sessel.
»Einpacken und beschriften!«, wies Josh den jungen Mann von
der Spurensicherung an. Elise warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Bitte«, fügte er noch hinzu.
Die Kleberolle hatte keinerlei Spuren auf der Anrichte hinterlassen.
»Stand noch nicht lange da«, bemerkte Elise.
»Sehen Sie sich das an«, sagte der Kriminaltechniker. »Die
Spuren auf dem Teppich.«
Kurz vor dem Sessel waren längliche Einkerbungen auf dem
Teppich zu erkennen. »Schleifspuren?«, fragte Josh.
»Dafür sind sie nicht lang genug«, erwiderte der Kollege.
»Wir müssen los«, unterbrach Elise sie mit einem Blick auf
die Uhr.
Josh nickte und gemeinsam gingen sie nach draußen. Als sie
an den Leichen der Dawkins vorbeikamen, ließ Josh noch einmal
die Brutalität dessen auf sich wirken, was ihnen angetan worden
war, und die Empörung in seinem Innern wuchs noch weiter an.
Vor dem Gebäude wurden sie vom grellen Licht der auf sie gerichteten
Fernsehkameras verschluckt. Dahinter erkannte Josh
eine kleine Gruppe von Nachbarn in Bademänteln und Sweatshirts,
höchstwahrscheinlich neugierig und verängstigt zugleich.
Ihm blieb jedoch keine Zeit, sie zu beruhigen. Er war sich nicht
einmal sicher, ob er dazu in der Lage wäre. Tief sog er die kühle
Nachtluft ein, versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen
und sich für die lange Nacht zu wappnen, die noch vor ihm lag.
Das Mercy General mit seinen vielen hellen Fenstern ragte wie
ein Leuchtturm zwischen den ganzen flachen Wohnhäusern und
auf alt getrimmten Villen auf. Aimee parkte so nahe wie möglich
am Gebäude und eilte auf den Haupteingang zu, als könne sie die
automatischen Türen so dazu bringen, sich schneller zu öffnen.
Im Empfangsbereich warteten auf den billigen Polsterstühlen
verstreut ein paar Leute. Eine junge Latina mit dunklen
Ringen unter den Augen und verschmiertem Make-up wiegte
einen Säugling im Arm. Ein dürres, hellhäutiges Mädchen mit
blond gefärbten, abstehenden Haaren und Tätowierungen, die
es bereuen
würde, ehe es vierzig war, hielt sich den Bauch. Etwas
abseits saß eine verängstigt wirkende Frau mittleren Alters
mit chemisch überbehandeltem Haar, die vorgab, in einer sechs
Monate alten Ausgabe des People-Magazins zu lesen. Das kleine
Zimmer hinter der Glasscheibe, über dem TRIAGERAUM
stand, war nicht besetzt. Aimee klingelte und wartete.
Eine stämmige Frau in Krankenhauskittel und mit kurzem, abstehendem,
rötlichem Haar eilte herbei. Um ihren Hals baumelte
ein Stethoskop. Sie musterte Aimee von oben bis unten, offenbar
um zu sehen, ob sie an ihr äußere Verletzungen entdecken
konnte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin auf der Suche nach Taylor Dawkin«, sprach Aimee
durch die kreisförmige, vergitterte Öffnung in der Glasscheibe.
Die Frau am Empfang setzte eine abweisende Miene auf. »Ich
schicke jemanden zu Ihnen«, erwiderte sie dann und machte auf
dem Absatz ihrer quietschenden Gummisandalen kehrt.
Aimee schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und
zog die Schultern hoch, um die Verspannungen ein wenig zu
lösen.
»Dr. Gannon?«, fragte die tiefe Stimme, die sie bereits vom
Telefon kannte.
Sie öffnete die Augen. »Ja.«
Vor ihr stand ein großer, dunkelhaariger Mann mit breiten
Schultern. Und er war bewaffnet. Um überhaupt in das Mikrofon
des Triagebereichs sprechen zu können, musste er sich herunterbeugen
und sich auf seine muskulösen Unterarme stützen, die
dank des hochgekrempelten Hemdes gut zu erkennen waren.
Seine Krawatte baumelte schief über der breiten Brust. Das
schwarze Haar war ein wenig herausgewachsen, sodass es ihm
vorn in die Stirn fiel und sich hinten leicht über dem ausgeblichenen
blauen Hemdkragen kräuselte. Männlicher ging es
nun wirklich nicht.
Aimees Körper reagierte instinktiv – selbst als ihr Blick auf
seinen Gürtel mit der Marke und seiner Waffe fiel.
Sein intensiver Blick aus den braunen Augen nahm sie gefangen.
Er musterte sie eingehend von oben bis unten, ohne auch
nur ein einziges Mal dabei zu blinzeln. Um sie einzuschüchtern,
müsste er sich jedoch etwas Besseres einfallen lassen.
»Ich bin Detective Wolf.« Er drückte auf den Summer, der
die Tür öffnete. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte
er und streckte die Hand aus, ohne sich ihr dabei jedoch zuzuwenden.
Ihr Blick fiel erneut auf seine Waffe. Große Männer
mit Waffen, Gott bewahre.
»Kann ich Taylor sehen?«, fragte Aimee. Sein Händedruck
war fest und förmlich, die Handfläche selbst kräftig und warm.
»Sicher.« Er wandte sich ab, ging aus dem kleinen Kabuff und
überließ es Aimee, ihm zu folgen.
Sie liefen an dem geschäftigen Durcheinander der Schwesternstation
und einer Reihe Vorhänge im Beobachtungsbereich vorbei.
Von überallher drang leises Stöhnen und Schluchzen, in das
sich leise gesprochene aufmunternde Worte mischten. Selbst
mitten in der Woche glich die Notaufnahme bei Nacht einem
emotionalen Ausnahmezustand. Aimee zog sich die Jeansjacke
enger um den Oberkörper.
Am Ende des Flurs saß ein uniformierter Polizist auf einem
Plastikstuhl. Er unterhielt sich gerade mit einer Frau, die einen
dunkelblauen Anzug und darunter ein weißes Spitzenoberteil
trug. Ihre Hautfarbe glich der eines cremigen Milchkaffees, wie
man ihn in New Orleans serviert bekam, das dunkle, gelockte
Haar hatte sie tief im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Sind Sie die Ärztin?«, sprach sie Aimee an, als sie und Wolf
näher kamen.
Aimee lächelte. »Approbierte klinische Psychologin. Genau
genommen also eher Wissenschaftlerin als praktische Ärztin.«
»Reicht mir vollkommen. Von den praktischen Ärzten gibt
es hier jede Menge, und keiner von denen konnte eine Verbesserung
erreichen.« Die Frau streckte ihr die Hand hin. »Elise
Jacobs. Ich bin Detective Wolfs Partnerin.«
Aimee ergriff die ihr angebotene Hand und schüttelte sie.
»Geht es Taylor gut?«, fragte sie. »Steckt sie in Schwierigkeiten?
Hat sie etwas angestellt?«
»Das versuchen wir immer noch herauszufinden.« Wolf schob
den Vorhang beiseite. »Sie ist da drin.«
Taylor Dawkins kauerte in einer Ecke auf dem Boden. Der
linke Arm war mit Handschellen an die fahrbare Trage gekettet,
sodass sie den Arm über den Kopf gestreckt halten musste, den
anderen hatte sie um die Knie geschlungen. Sie war so gut es
ging eingeigelt und schaukelte mit fest geschlossenen Augen vor
und zurück. Arme und Beine waren mit tiefen Schnittwunden
übersät, aus denen immer noch Blut durch die fettig glänzende,
antibiotische Salbe troff. Die Finger waren mit schwarzer Tinte
beschmiert.
Aimee entfuhr ein Schrei, sie wollte auf das Mädchen zustürzen,
doch die Welt um sie herum schien aus den Fugen zu geraten.
Sie suchte nach Halt, aber da war nichts. Plötzlich spürte
sie eine stützende Hand im Kreuz. Als sie sich dagegenlehnte,
fiel ihr auf, wie kräftig und warm diese Hand war. Die von ihr
ausgehende Hitze erfasste ihren ganzen Körper. Da erst wurde
Aimee bewusst, dass es Wolfs Hand war. Sie atmete tief durch,
entzog sich ihm und versuchte, ihr wild pochendes Herz zu zähmen.
»Was ist mit ihr geschehen?«, wisperte sie.
»Das versuchen wir gerade herauszufinden«, hörte sie Detective
Wolf hinter sich sagen. »Sie spricht nicht mit uns. Mit niemandem.«
»Sie gibt überhaupt kein Wort von sich«, ergänzte Elise, trat
vor und stellte sich neben Aimee.
»Wo haben Sie sie gefunden?« Aimee wandte sich zu den
Detectives um.
»Zu Hause.« Wolfs braune Augen waren auf sie gerichtet, doch
sie konnte seinen Blick nicht deuten.
»Zu Hause? In diesem Zustand? Ist jemand dort eingebrochen?
« Aimee drehte sich wieder zu Taylor um und ihr wurde
fast übel. Zwar hatte Taylor sich bereits früher selbst Wunden
zugefügt, aber das war nichts gewesen, was auch nur annähernd
dem hier gleichkam. Die zarten Narben waren mehr nach außen
gerichtet, als dass sie körperlichen Schaden angerichtet hätten.
Aimee hatte das als Hilfeschrei interpretiert, einen sichtbaren
Hinweis darauf, welche Schmerzen das Mädchen im Innersten
spürte. Aber das hier sah aus, als sei Taylor mit hundertvierzig
Sachen in ein Schaufenster gerast.
»Das wissen wir noch nicht«, gab Wolf zurück.
»Was ist mit ihren Eltern? Wurden sie ebenfalls angegriffen?
Wer hat ihnen das bloß angetan?« In Aimees Kopf jagte ein Horrorszenario
das nächste.
Detective Wolf nickte in Richtung des uniformierten Beamten,
wie um ihm einen stummen Befehl zu geben. Sofort erhob
sich der Mann und bot Aimee seinen Stuhl an. »Ich denke, Sie
sollten sich besser hinsetzen, um sich den Rest anzuhören.«
Aimees Blick schnellte von einem verschlossenen Gesicht zum
anderen. Sie wollte sich nicht hinsetzen. Sie wollte jemanden
schütteln, wollte laut schreien. Aber Taylor brauchte sie, und um
Taylor helfen zu können, benötigte Aimee genauere Informationen.
Also setzte sie sich, war jedoch jederzeit bereit, wieder aufzuspringen.
»Bitte sagen Sie mir, was vorgefallen ist.«
Detective Wolf schnappte sich einen Stuhl von der gegenüberliegenden
Flurwand, drehte ihn so um, dass die Sitzfläche
zu ihm zeigte, und setzte sich breitbeinig darauf. »Gegen halb elf
erreichte uns ein Notruf aus dem Haus der Familie Dawkin. Der
Vater einer Schulfreundin von Taylor war in Sorge. Taylor hatte
bei den Norchesters gemeinsam mit der Tochter der Familie für
eine Prüfung gelernt und hätte sich eigentlich melden sollen,
um Bescheid zu sagen, dass sie gut nach Hause gekommen sei.
Als sie jedoch nichts von ihr hörten und auch bei den Dawsons
niemand abnahm, ist Mr Norchester zum Haus der Familie gefahren
und hat Taylor dort so vorgefunden, wie Sie sie jetzt hier
vor sich sehen – nur saß sie zwischen den beiden Leichen ihrer
ermordeten Eltern.«
Die Psychologin wurde blass und starrte ihn mit weit aufgerissenen,
riesig wirkenden Augen an. Wegen ihrer sanften, aber reifen
Stimme am Telefon hatte er jemand Älteren erwartet, als ihre
teeniemäßige Aufmachung mit Jeansjacke und Pferdeschwanz
jetzt vermuten ließ. Zwar konnte er in dem grellen Neonlicht erste
feine Fältchen um ihre Augen herum ausmachen, bei dieser
Brachialbeleuchtung sahen jedoch sogar Neugeborene runzelig
aus. Das Gesicht mit den aufregend blauen Augen, die trotz ihrer
schwarz umrandeten Brille deutlich hervorstachen, wurde von
ihrem dunklen Haar eingerahmt. Vollkommen unerwartet regte
sich heftiges Verlangen in ihm – so etwas hatte er lange nicht
mehr gefühlt … seit Holly, um genau zu sein.
Elise stieß von hinten mit dem Fuß gegen seinen Stuhl und
machte ihn so darauf aufmerksam, dass er die Frau wortlos anstarrte.
Er räusperte sich. »Taylor weigert sich, mit uns zu sprechen.
Sie hat jede Menge Schnittwunden, aber wie es aussieht,
könnte sie sich diese Verletzungen auch selbst zugefügt haben.
Am Tatort lagen jede Mengen Scherben. Wir können noch nicht
sagen, ob ihr jemand etwas angetan hat oder …«
»Oder was, Detective Wolf?« Dr. Gannon knetete nervös die
Finger, an denen keinerlei Ring steckte. Obwohl sie sich gelassen
gab, bemerkte Josh, dass ihre Hände zitterten.
»Oder ob sie selbst in irgendeiner Form am Blutvergießen beteiligt
war«, sagte Elise, die hinter ihm stand.
Ihre Worte waren sorgfältig gewählt. Denn sie wussten weder,
ob Taylor sich diese Schnitte selbst zugefügt hatte, noch, ob sie in
irgendeiner Form an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt war.
Elises Aussage ließ offen, um welche von beiden Taten es ging.
Deswegen würde die Antwort der Psychologin möglicherweise
aufschlussreicher sein als Elises Antwort selbst – je nachdem, wie
sie die eben gehörten Worte interpretierte.
Gannon atmete tief durch, dann rieb sie sich die Stirn. »Taylor
hat sich nie nach außen hin gewalttätig gezeigt. Ihre Probleme
waren mehr selbstzerstörerischer Natur, allerdings nicht in diesem
Ausmaß.« Gannon warf einen Blick über die Schulter auf die
verhangene Kabine. »Nicht einmal annähernd«, murmelte sie.
Also könnte sie sich die Schnittwunden selbst zugefügt haben.
Das war nicht besonders schwer zu erraten gewesen bei all den
Glasscherben, die um sie herum auf dem Boden verstreut gelegen
hatten. Was Josh wirklich interessierte, war, um welche Art
von Reaktion auf die Ermordung der Eltern es sich hier handelte.
Schuld? Oder hatte sie aus Trauer und Entsetzen selbst Hand
an sich gelegt? Jeder Mensch verhielt sich anders, wenn er sich
mit Gewalt konfrontiert sah.
Oder steckte mehr dahinter? Etwas, das er nur herausfinden
konnte, wenn ihm jemand dabei half, der Taylor in- und auswendig
kannte? So wie ihre Therapeutin.
Und sollte Taylor zufällig zum Schauplatz des Verbrechens
hinzugestoßen und deswegen durchgedreht sein, wollte er dafür
sorgen, dass sie psychologische Hilfe bekam. Und zwar schnell.
»Welches Verhältnis hatte Taylor zu ihren Eltern?«, fragte
Josh.
Gannon seufzte. »Welches siebzehnjährige Mädchen kommt
schon gut mit seinen Eltern zurecht? Das ist ein schwieriges
Alter. Ich jedenfalls hatte mit siebzehn kein besonders gutes
Verhältnis zu meinen Eltern, Sie etwa, Detective?« Sie ließ die
nun nicht mehr so stark zitternden Hände wieder in den Schoß
zurückfallen.
»Also gab es von Taylors Seite nicht mehr Wut als die einer
typischen Teenagertochter?«, fragte Elise. Ihre honigsüße Stimme
und die gelassene Miene lenkten viele Menschen von dem
messerscharfen Verstand ab, der sich dahinter versteckte.
Gannon runzelte die Stirn. »Das würde ich so auch nicht sagen.
Tatsächlich bin ich mir nicht ganz sicher, was ich überhaupt
sagen kann und was nicht. Schließlich muss ich meinen Patienten
gegenüber die Schweigepflicht wahren.«
»Es geht hier um einen Doppelmord«, konterte Elise kühl.
»Zwei Menschen sind tot! Ermordet in ihrem eigenen Zuhause!«
»Das ist mir durchaus bewusst.« Gannons Stimme zitterte ein
wenig und Josh meinte, darin mehr als nur Entsetzen zu erkennen.
Wovor genau hatte Aimee Gannon Angst? »Und ich möchte
ja auch helfen«, fuhr sie fort. »Da gibt es eine Tante in Redding,
die Taylor nahesteht. Ich kann nicht genau sagen, ob sie jetzt
rechtlich gesehen die Vormundschaft besitzt, aber ich würde davon
ausgehen. Wenn wir sie kontaktieren könnten und von ihr
die Erlaubnis erhielten, meine Akten freizugeben …«
Wolf öffnete sein Notizbuch und überflog die Einträge. »Marian
Phillips? In der Hummingbird Lane 2752?«
»Möglicherweise«, sagte Gannon. »Da müsste ich in meinen
Akten nachsehen.«
»Nicht nötig«, antwortete er. »Wir haben bereits bei ihr angerufen.
Sie wird im Verlauf des Vormittags hier eintreffen.«
Gannon nickte, schon wieder händeringend. »Also gut. Rufen
Sie mich an, sobald sie hier eintrifft, und dann können wir uns
weiter darüber unterhalten, warum Taylor mich aufgesucht hat.«
Sie zögerte. »Dürfte ich mit Taylor sprechen?«
Josh warf Elise einen Blick zu, die kaum merklich nickte. Wenn
sie Taylor dazu brachte, irgendetwas anderes als diese leisen unmenschlichen
Laute von sich zu geben, dann würden sie eventuell
etwas aus ihr herausbekommen. Es war durchaus möglich,
dass das Mädchen der Schlüssel zu diesem Fall war. Wenn es die
Morde auch nicht begangen hatte, dann hatte es vielleicht etwas
Wichtiges beobachtet. »Selbstverständlich, nur zu.«
Der Aufpasser zog den Vorhang zur Seite und Gannon trat zu
dem Mädchen.
»Taylor«, sagte sie betont ruhig. »Taylor, ich bin es, Dr. Gannon.«
Nichts wies darauf hin, dass Taylor sie wahrgenommen hatte,
denn sie wiegte sich weiterhin vor und zurück und gab dabei weiterhin
ständig dieses leise Wimmern von sich.
Gannon kniete sich neben Taylor und legte ihr sanft eine Hand
auf den Rücken. »Taylor, alles ist gut. Du bist jetzt in Sicherheit«,
sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Taylor schaukelte schneller.
»Niemand hier wird dir wehtun«, sagte Gannon.
Taylor schaukelte weiter.
»Kannst du mir sagen, was passiert ist? Was deinen Eltern zugestoßen
ist? Und dir, Taylor? Kannst du mir sagen, was dir passiert
ist?« Gannons Stimme war nur mehr ein Flüstern, als hätte
ihr jemand die Kehle abgeschnürt.
Taylor sah sie nicht einmal an.
Gannon richtete ihren intensiven Blick wieder auf Josh, der
sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Seitenwand
der Kabine gelehnt hatte. Langsam machte ihm seine Müdigkeit
zu schaffen. Er war seit achtzehn Stunden im Einsatz, und alles,
was in diesen ersten Stunden der Ermittlungen geschah, war
entscheidend. Wenn er nicht höllisch aufpasste, würde er sich
später eventuell in dieser Art von Schlamassel wiederfinden, der
zu einem nicht gelösten Fall führte – und das wiederum würde
seinen Ruf ruinieren. Er würde also durchhalten. Wäre ja nicht
das erste Mal.
Bei Mordfällen verlangte die Öffentlichkeit immer eine rasche
Aufklärung. Besonders wenn rechtschaffene, gerade friedlich
zu Hause strickende Leute daheim überfallen, gefesselt und
erwürgt wurden. Solche Fälle sollten blitzschnell gelöst werden.
»Sie steht unter Schock.«
»Ach was«, sagte Wolf. Hielt sie ihn für einen Vollidioten? Er
hatte gehofft, mit ihrer Hilfe Taylor aus dieser Schockstarre befreien
zu können, ohne dem Mädchen dafür eine Ohrfeige verpassen
zu müssen.
Gannon kräuselte die Lippen und sah ihn aus schmalen Augen
an. »Und wie hatten Sie geplant, damit umzugehen?«
Sie war wirklich süß, wenn sie wütend war – besonders mit
dieser Brille auf der Nase, die sie wie eine sexy Bibliothekarin
aussehen ließ. Nicht, dass ihm das aufgefallen wäre. »Was ich geplant
hatte, war, Sie anzurufen.«
Sie setzte sich seufzend auf die Fersen, ließ die Hand jedoch
weiterhin auf Taylors Rücken ruhen. »Ihr ist kalt. Sie braucht
eine Decke und jemanden, der sich zu ihr auf den Boden setzt.«
»Auf der Trage wollte sie nicht bleiben«, rückte Smitty, der
Aufpasser, mit der Sprache heraus. »Ist immer wieder auf den
Boden geklettert. Nach einer Weile dachte ich, es wäre einfacher,
sie dort sitzen zu lassen.«
Gannon warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Einfacher
für wen?«
Smitty wurde rot.
»Und warum trägt sie Handschellen?« Gannons Stimme wurde
ein wenig lauter.
Als Smitty sich hilfesuchend an Josh wandte, folgte Gannon
seinem Blick.
»Weil … wir nicht wussten – nicht wissen –, womit wir es hier
zu tun haben«, sagte er.
»Und das bedeutet?«, fragte Gannon, während sie sich wieder
aufrichtete.

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