Leseprobe zu: Hotshots Firefighters Band 2, Schatten der Vergangenheit

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© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Unverkäufliche Leseprobe


Sam MacKenzie stand auf einem der hoch gelegenen Gipfel der
Sierra Nevada und suchte die sich vor ihm ausbreitenden Berge
nach Flammen und Rauch ab. Da er in den letzten vierundzwanzig
Stunden ununterbrochen Brandschneisen freigeschaufelt
oder sich mit der Kettensäge durch nicht enden wollende
Anhöhen voller Buschwerk gearbeitet hatte, war er von Kopf bis
Fuß mit einer dicken Schicht Ruß und Asche überzogen.
Für einen Hotshot waren mehrere Tage ohne Schlaf nichts
Ungewöhnliches, ebenso wie die langen Märsche mit fünfundzwanzig
Kilo Gepäck auf dem Rücken, um zu den gewaltigen
Flächenbränden zu gelangen, an denen sich alle anderen die
Zähne ausgebissen hatten. Bei ihren Einsätzen ernährten sich die
Männer über längere Zeit nur von hochkalorischem »Trockenfutter
«, das noch nicht einmal der verfressenste Hund freiwillig
zu sich nehmen würde. Hinzu kam die Unberechenbarkeit des
Feuers; es konnte selbst die härtesten Männer an ihre Grenzen
bringen – oder sie gar das Leben kosten.
Doch all das war vergessen, wenn sie ein Menschenleben oder
auch alte Baumbestände retten konnten. Außerdem war da noch
dieses unbeschreibliche Hochgefühl, das sie jedes Mal überkam,
sobald sie den Kampf mit einem dieser Waldbrände gewonnen
hatten.
Seit er denken konnte, hatte Sam MacKenzie ein Hotshot sein
wollen – und es war noch immer sein Traumberuf.
In das statische Rauschen des Funkgeräts mischte sich die
Stimme von Logan Cain, dem Leiter der Crew: »Wie wär’s mit
einem Hubschrauberflug? Es sieht zwar so aus, als hätten wir
dieses Feuer in den Griff bekommen, aber mir wäre es lieber,
wenn du dir die Sache noch mal von oben anschaust, nur um auf
Nummer sicher zu gehen.«
»Lass mir ’ne halbe Stunde Zeit, dann bin ich auf offenem Gelände
und abflugbereit«, antwortete Sam und gab noch schnell
seine Koordinaten durch, bevor er sich abmeldete.
Nachdem er sein Werkzeug zusammengepackt und sich den
schweren Rucksack aufgesetzt hatte, folgte er einem Wildpfad
den Berg hinauf. Erst gestern war er genau über diesen Weg mit
seiner vierköpfigen Mannschaft abgestiegen.
»Gute Arbeit, Männer«, hatte er sie beim gemeinsamen Frühstück
gelobt, bevor er sich alleine auf den Weg gemacht hatte.
Da es in der letzten Woche gleich mehrere Einsätze gegeben
hatte, sehnten sich die Jungs bestimmt nach einem freien Tag,
den sie, mit einer Angel und einem Sechserpack Bier ausgerüstet,
am See verbringen konnten, um vor dem nächsten Feuer die
Batterien wieder aufzuladen.
»Ihr könnt euch jetzt wieder in den Sicherheitsbereich zurückziehen.
Joe und ich werden den Helikopter nehmen und uns
einen Überblick über die Lage verschaffen. Sobald ihr grünes
Licht bekommt, könnt ihr alle zur Wache, duschen und eine
Pause einlegen.«
Der Neuzugang in seiner Truppe hatte breit zu grinsen begonnen,
und die weißen Zähne des Jungen hatten ein großes Loch
in sein rußverschmiertes Gesicht gerissen, das wie eine schwarze
Maske ausgesehen hatte.
»Hey Mann, du hast vergessen zu erwähnen, was vor der
Erholung und nach der Dusche ansteht.« Zach hatte in die
Runde geblickt und bedeutungsschwanger gezwinkert: »Bräute
aufreißen.«
Sam musste lachen. Zach hatte den Nagel auf den Kopf ge-
troffen. Früher hatte er es ja selbst kaum erwarten können,
endlich vom Berg herunterzukommen und sich zu dem warmen,
weichen Körper ins Bett zu legen, der dort auf ihn gewartet
hatte. Das war eine Ewigkeit her; damals war er ein genauso
junger Hüpfer wie Zach gewesen und noch dämlich genug, um
zu glauben, er hätte »die Richtige« gefunden.
Als er den Landeplatz erreichte, wartete Joe, der Pilot im
Team der Waldbrandbekämpfer, bereits auf ihn. Sam war kaum
in die Kabine gestiegen, da hatte Joe bereits den Motor gestartet,
und mit laut schwingenden Rotorblättern hoben sie vom Boden
ab.
Nach sechs gemeinsamen Jahren im Einsatz verstanden sie
sich ohne Worte. In gemächlichem Tempo flogen sie über die
staubtrockene Landschaft, und Sam suchte nach Anzeichen,
die neue Brandherde verraten würden. Hier in der Gegend
gab es zwar auch eigens dafür errichtete Türme, doch nur vom
Hubschrauber aus konnten auch schwer einsehbare Orte wie die
dicht bewachsenen Täler überprüft werden.
Sam war kurz davor, Entwarnung zu geben, als er hinter dem
vor ihm liegenden Bergrücken eine dünne Rauchfahne aufsteigen
sah.
»Lass uns weiter nach Westen fliegen.«
Joe warf ihm einen besorgten Blick zu. »Hast du etwas entdeckt?«
»Dort hinter dem Rotholzwäldchen ist etwas.«
Joe legte einen Zahn zu, und schon bald sahen sie am Fuße
des Berges, direkt neben einem Bach, ein loderndes Feuer. Gott
sei Dank waren sie hierhergeflogen, um noch ein letztes Mal
nachzusehen.
»Ich werde Unterstützung für die Feuerschneise anfordern.
Voraussichtliche Ankunftszeit dreißig Minuten«, entschied Logan,
nachdem die beiden Männer ihm die Koordinaten des Ortes
durchgegeben hatten. Es folgte eine kurze Pause, und Sam wusste
schon, was jetzt kommen würde. Die gleiche Anweisung, die
ihnen ihr Gruppenführer seit letztem Sommer wirklich jedes Mal
mit auf den Weg gab. »Geh nicht rein, falls es zu gefährlich ist!«
Letztes Jahr war in der Desolation Wilderness ein Flächenbrand
ausgebrochen, der sich innerhalb kürzester Zeit von einem
Routineeinsatz zu einer handfesten Katastrophe entwickelt hatte.
Er und Logan waren gemeinsam mit Connor, Sams jüngerem
Bruder, in einen Feuersturm geraten. Logan und Sam hatten den
Wettlauf um ihr Leben unbeschadet überstanden, aber Connor
war von den Flammen verschlungen und wieder ausgespuckt
worden – dabei hatte er schwere Verbrennungen an Armen,
Händen und im ganzen Brustbereich erlitten.
Deshalb musste Sam jetzt ohne Connor die ihnen beiden so
vertrauten Pfade ablaufen. Zehn Jahre lang hatten sie das Seite
an Seite getan. Er vermisste Connor hier draußen im Wald jeden
Tag aufs Neue. Sie alle waren Adrenalin-Junkies, auch diejenigen
unter den Hotshots, die es nicht zugeben wollten. Doch Connor
war immer noch ein Quäntchen draufgängerischer gewesen als
die meisten anderen.
In den letzten Jahren hatte sich Sam seinem kleinen Bruder,
was den Wagemut anging, allerdings ziemlich angenähert. Da
weder eine Frau noch Kinder zu Hause auf ihn warteten, gab es
nichts, was ihn davon abhielt, bis zum Äußersten zu gehen. Besonders
in Situationen, in denen er die Möglichkeit hatte, Leben
zu retten, indem er sein eigenes aufs Spiel setzte.
Sam schreckte vor keiner Gefahr zurück, auch nicht vor diesem
Feuer jetzt, selbst wenn es sich möglicherweise um eine
tödliche Bedrohung handelte.
»Ich werde zu Fuß reingehen, um herauszufinden, ob die
Gegend bewohnt ist«, gab Sam zurück. Dann verstaute er das
Funkgerät in seinem Schutzanzug.
Er würde die Pulaski mitnehmen, eine Kombination aus Axt
und Hacke, dann noch die Kettensäge, seinen auch »Bratenschlauch
« genannten Ein-Mann-Feuerschutz und den Erste-
Hilfe-Kasten. Bei der Arbeit an der Feuerschneise und dem
Legen eines Gegenfeuers würde er hoffentlich nur auf die ersten
beiden Ausrüstungsgegenstände zurückgreifen müssen. Aber solange
er nicht sicher war, was ihn da unten erwartete, würde er
sich auf das Schlimmste vorbereiten, so viel stand fest.
»Du kannst mich hier runterlassen, Joe.«
Genau in diesem Moment wurde der Hubschrauber jedoch
von einer Bö erfasst, die ihn fast zwei Meter näher an die Bergwand
herantrieb. Joe warf Sam einen besorgten Blick zu. »Es
wird immer stürmischer. Willst du nicht lieber doch auf Verstärkung
warten?«
Aber als der plötzliche Windstoß für den Bruchteil einer Sekunde
den Blick auf die feuerbedeckte Landschaft unter ihnen
freigab, sprang Sam etwas ins Auge.
»Da unten ist eine Hütte. Ich muss mir das genauer ansehen.«
»Ich weiß wirklich nicht, ob das so eine gute Idee ist«, gab Joe
zu bedenken, doch dann lenkte er den Helikopter geschickt auf
das Hausdach zu, sodass er knapp über den Flammenspitzen in
der Luft schwebte. »Näher komme ich nicht ran. Wird ein harter
Abstieg.«
Sam schaute durch den Plexiglas-Boden nach unten und wog
das Risiko ab. Knapp drei Meter mochten es wohl sein. Kaum
der Rede wert. Kein Problem.
»Das ist nahe genug.«
Sam zog die Notleiter unter seinem Sitz hervor, öffnete die
Seitentür und befestigte sie dann außen an der Metallkufe. Vorsichtig
stieg er aus dem Hubschrauber und befand sich bereits
auf halbem Weg nach unten, als es Joe durch eine leichte Positi-
onsänderung gelang, noch einmal mindestens sechzig Zentimeter
gutzumachen.
Sam ließ sich fallen. Obwohl er mit einem etwas längeren
Sturz gerechnet hatte, landete er spinnengleich auf allen vieren
zwischen den lockeren Dachziegeln und fand sofort Halt.
Der Helikopter stieg auf und drehte ab, und eine unheimliche
Stille senkte sich über die abgeschiedene Berghütte. Sam konnte
nachvollziehen, warum manche Menschen gerne so tief im Wald
lebten. Wer würde nicht das Rauschen des Windes in den Bäumen
und einen plätschernden Bach dem ewigen Verkehrslärm
und nervigen Nachbarn vorziehen? Ein Häuschen wie dieses war
der perfekte Rückzugsort.
Der einzige Nachteil war, dass es hier im Notfall niemanden
gab, der einem helfen konnte.
Plötzlich wurde die Stille vom Weinen eines Kindes zerrissen.
Sam suchte nach einer Möglichkeit, vom Dach herunterzukommen,
und stieß auf eine Felsansammlung hinter dem Haus. Er
sprang die Gesteinsbrocken wie Stufen hinab und näherte sich
dem Nebengebäude, aus dem die Laute gekommen waren.
Auf dem Weg dorthin rannte ein kleines Mädchen in ihn hinein,
dem Tränen über die Wangen liefen. Sie schluchzte so stark,
dass er kein Wort von dem verstand, was sie ihm sagen wollte,
also kniete er sich hin, um sie zu beruhigen. Sam strich ihr das
Haar aus dem Gesicht; sie war ein dürres kleines Kind, sodass es
ihm schwerfiel, ihr Alter einzuschätzen, aber er war sich sicher,
dass sie noch keine zehn Jahre alt war.
»Alles wird gut«, sagte er mit sanfter Stimme. Ihre Augen,
die bislang vor Angst ganz blind gewesen waren, öffneten sich
weit, und sein beruhigender Blick verfehlte nicht seine Wirkung.
»Sind deine Eltern auch hier?«, fragte er sie.
»Papa ist arbeiten. Mama geht’s nicht so gut«, antwortete sie
jetzt klar und verständlich.
»Ist noch jemand bei euch?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Habt ihr einen Hund? Eine Katze? Oder vielleicht einen
Leguan?«
Die Frage nach dem Reptil entlockte der Kleinen den Anflug
eines Lächelns und zeigte Sam, dass sie das hier überstehen
würde.
Kinder waren gut darin, ihre Angst hinter sich zu lassen.
Ihm war es früher genauso gegangen. Und seinem Bruder
auch.
»Ich heiße Sam. Und du?«
»Piper.«
»Kannst du mich zu deiner Mama bringen, Piper?«
Das Mädchen rannte auf der Stelle los, und Sam folgte ihr ins
Haus hinein. Dort lag eine Frau zusammengekauert auf dem
Sofa, die Arme um den runden Bauch geschlungen. Sie weinte
zwar nicht, doch in ihren weit aufgerissenen Augen stand grenzenlose
Furcht.
Sie war groß, schlank und blond, und ihr Gesicht ähnelte einer
anderen Frau aus Sams Vergangenheit immerhin so sehr, dass
es ihm einen scharfen Splitter ins Herz trieb, noch bevor er sich
dagegen wappnen konnte.
Dianna.
Energisch schob er jeden Gedanken an seine Ex beiseite und
kniete sich neben die Frau. »Ich bin Feuerwehrmann und hier,
um Ihnen zu helfen. Wie heißen Sie?«
Ihre Lippen bebten, und er sah die Tränenspuren auf ihren
Wangen. »Tammy.«
»Ihre Tochter hat mir gesagt, dass es Ihnen nicht gut geht.«
»Die Wehen haben eingesetzt«, flüsterte sie. »Aber eigentlich
ist es noch zu früh. Und ich hatte bereits eine Fehlgeburt.«
Jedes ihrer Worte trieb ihm ein Messer in die Magengrube. Er
wusste besser als irgendwer sonst, wie qualvoll es war, ein Kind
zu verlieren. Er spürte ein starkes Ziehen in der Brust, und etwas
schnürte ihm die Kehle zu, doch er ließ nicht zu, dass dieses
Gefühl die Oberhand gewann.
Nach zehn Jahren als Hotshot hatte er gelernt, sich durch
nichts und niemand von der Aufgabe, die vor ihm lag, ablenken
zu lassen.
Durch das Fenster über der Couch konnte er erkennen, wie
sich die Baumwipfel unter dem kräftigen Bergwind krümmten.
Es war nur eine Frage von Minuten, bevor die Flammen über
das Haus herfallen würden.
Sam fragte sich, ob sie es überhaupt lebend hier raus schaffen
konnten, denn für Joe würde es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit
sein, sie bei dem Sturm hier aufzusammeln.
Tammys Stimme klang panisch: »Das Telefon funktioniert
nicht mehr, und mein Mann hat das Auto genommen. Ich war
mir sicher, dass wir verloren sind.« Sie begann zu weinen. »Ich
will nicht, dass meinem Baby etwas passiert – oder meinem
kleinen Mädchen.«
Verdammt, hier war wirklich kein Platz für Zweifel oder bloße
Vermutungen! Er musste sie von hier wegbringen.
»Können Sie laufen?«
Sie versuchte, sich aufzurichten, sank aber sofort wieder auf
die Kissen zurück.
»Es tut so weh«, sagte sie, und es war offensichtlich, dass sie
sich wegen der Krämpfe kaum aufrecht halten konnte.
So wie das Feuer um sie herum tobte, konnte Joe unmöglich
nahe genug an das Haus herankommen. Außerdem war Tammy
nicht in der Verfassung, eine Leiter hinaufzuklettern – also musste
Sam einen Landeplatz ausfindig machen.
Er zog das Funkgerät hervor: »Joe, ich bin mit einer schwangeren
Frau und ihrer Tochter in nordwestlicher Richtung unterwegs.
Wir brauchen dich für den Krankentransport, melde
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dich, sobald du eine Landemöglichkeit gefunden hast. Und mach
schnell!«
Behutsam und mit geübtem Griff hob er Tammy von der
Couch. »Legen Sie mir die Arme um den Nacken, und halten
Sie sich gut fest.« Er wandte sich an Piper: »Du siehst so aus, als
wärst du ziemlich schnell.«
»Das bin ich auch.«
Er schenkte dem niedlichen Mädchen ein Lächeln. »Sehr gut.
Dann lass uns ganz fix von hier verschwinden. Wir müssen einen
Hubschrauber erwischen.«
Sam trug Tammy vorsichtig hinaus, und sie schafften es bis zu
dem Ufer des Baches am Rande des Grundstücks. Der beißende
Geruch von frischem Rauch lag in der Luft, und Sam wies Mutter
und Tochter an, Mund und Nase mit ihren T-Shirts zu bedecken.
Joe gab per Funk durch, dass er eine halbe Meile von der
Hütte entfernt eine Lichtung entdeckt hatte. Der Berghang, der
aus dem Tal heraus zur Wiese führte, war ziemlich steil, aber
Tammy wog trotz ihrer Schwangerschaft nicht viel.
»Wie hältst du dich, Piper?«, fragte er das tapfere kleine Mädchen,
als sie sich an den Aufstieg machten.
»Mir geht es gut. Ich bin wirklich schnell, stimmt’s?«
»Und wie, Piper. Tammy, haben Sie Schmerzen? Sollen wir
langsamer gehen?«
Sie hatte sich etwas beruhigt, und er ahnte, was jetzt in ihr
vorging. Sie wollte nur noch weg, um so schnell wie möglich in
den Helikopter und ins Krankenhaus zu kommen.
»Nein, bitte beeilen Sie sich«, lautete ihre Antwort.
Da er weder auf der Couch noch an ihren Kleidern Blut gesehen
hatte, betete er, dass die Krämpfe nicht eine Fehlgeburt
ankündigten.
Sein eigenes Kind hatte er nicht rechtzeitig retten können. Bei
diesem hier musste er es einfach schaffen.
»Es wird alles gut werden«, versprach er und hoffte, dass es
der Wahrheit entsprach.
Allerdings konnte er Joe nicht hören, sondern nur das Tosen
der heißen Flammen, die bereits die Nebengebäude verschlangen.
Würde er es schaffen, sie alle drei von dem Berg herunterzubekommen,
bevor sie als Nächstes dran glauben mussten?
Doch Gott sei Dank ertönte genau in diesem Moment das
laute Schwirren der Rotorblätter über ihnen.
»Joe wird uns hier rausholen«, sagte er, und nur wenige Minuten
später hatten sie den Hang erklommen und sahen, dass der
Hubschrauber bereits gelandet war und auf sie wartete. Mit vereinten
Kräften hoben die beiden Männer Tammy in die Kabine.
Auf dem Weg ins Krankenhaus kam ihnen ein weiterer Helikopter
entgegen, der eine Ladung Löschwasser brachte. Sam
drückte Tammys Hand, lächelte sie an und sagte: »Wenn die
Männer schnell genug sind, werden sie vielleicht sogar Ihr Haus
retten können, bevor das Feuer von den Nebengebäuden auf das
Haupthaus überspringt.«
»Die Hütte ist mir egal«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Alles, was ich mir wünsche, ist, dass das Baby gesund ist.«
Ihm ging es genauso. »Ich weiß«, sagte er. »Es dauert nicht
mehr lange, okay?«
Piper hielt die andere Hand ihrer Mutter umklammert. »Du
wirst wieder gesund, Mama. Und meine kleine Schwester auch.«
Sam atmete tief durch, denn der Schmerz in seiner Brust
drohte ihn entzweizureißen. Wenn die Dinge anders verlaufen
wären, dann hätte er jetzt ein Kind in Pipers Alter.
Als sie wenig später das Krankenhaus erreichten, hatten immer
noch keine Blutungen eingesetzt. Sam war maßlos erleichtert.
Eine Krankenschwester kam mit einem Rollstuhl herbeigeeilt
und nahm Tammy mit sich, doch Piper blieb neben Sam
stehen.
»Du hast meine Mom gerettet. Und auch mein Geschwisterchen.«
Ihr Lächeln traf ihn wie ein Sonnenstrahl, und dann schlang
sie plötzlich die dünnen Ärmchen um seine Beine und vergrub
das Gesicht in seinem Anzug. Genauso schnell, wie das geschehen
war, hatte sie ihn auch schon wieder losgelassen und rannte
den Gang entlang hinter der Krankenschwester und ihrer Mutter
her.
Es würde alles gut ausgehen. Tammy und ihr Mann würden
stolze Eltern eines kleinen Mädchens werden. Und Piper würde
ihr eine tolle ältere Schwester sein.
Trotzdem hielt etwas Dunkles, Hartes seine Brust umklammert
– ein dumpfer Schmerz, den er nie vollständig unterdrücken
konnte.
Als er wieder vor die Tür trat, stand Joe kettenrauchend in
dem dafür ausgewiesenen Bereich des Parkplatzes.
»Ich kann mich noch nicht entscheiden, ob ich das, was du
heute getan hast, unglaublich mutig oder einfach vollkommen
hirnverbrannt finden soll«, sagte Joe. »Dieses Feuer hat sich
mit rasender Geschwindigkeit ausgebreitet. Was, wenn es dich
erwischt hätte, bevor ich eine Landemöglichkeit gefunden und
dich rausgeholt hätte?«
Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich sein wollte, dann musste
Sam zugeben, dass ihm kein Einsatz bisher so nahegegangen
war, auch wenn er sich bereits in vergleichbar gefährlichen Situationen
befunden hatte.
Und es war ihm auch noch niemals so schwergefallen, sich
zusammenzureißen und auf die Aufgabe zu konzentrieren, die
vor ihm lag.
Doch nichts davon würde er seinem Freund gegenüber zugeben,
also sagte er bloß: »Ich habe nur getan, was getan werden
musste.«
Joe zog noch ein paarmal hektisch an seiner Zigarette, dann
ließ er sie auf den Boden fallen und zündete sich die nächste an.
»Es war jedenfalls eine nervenaufreibende Sache zu wissen, dass
du da draußen mitten in einem Feuersturm festsaßt.« Sein Mund
verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Wäre echt scheiße,
wenn du draufgehst, während ich auf dich aufpasse.«
»Wohl wahr«, pflichtete Sam ihm bei und versuchte, die Anspannung
zu vertreiben, die ihm immer noch schwer auf den
Schultern lastete. »Wenn du mit einem Mann weniger zurückgekommen
wärst, hättest du das nie wiedergutmachen können.«
Nachdem sie über Funk Bescheid bekommen hatten, dass
das letzte Feuer gelöscht war, flog Joe Sam zur Feuerwache von
Tahoe Pines zurück. Während sie über den See glitten, starrte
Sam auf das blaue Wasser und dachte darüber nach, wie sehr die
Entscheidung, nach Lake Tahoe zu ziehen, sein ganzes Leben
verändert hatte.
Bis dahin war er nur ein Junge aus der Vorstadt gewesen,
immer von Zäunen umgeben und ständig mit seinem kleinen
Bruder im Schlepptau, da seine Mutter voll und ganz damit
beschäftigt war, allen eine intakte Ehe vorzuspielen. Sein Vater
hatte ihr Zuhause gemieden. Als Sam ins Teenageralter kam,
begann die Fassade seiner Mutter zu bröckeln, und seine Eltern
fingen an sich zu streiten. Er hatte versucht, die scheinbar endlosen,
schrillen Auseinandersetzungen zwischen seiner Mutter
und seinem Vater mit laut aufgedrehter Musik zu übertönen.
Irgendwann wusste Sam nicht mehr, wohin mit all seiner Wut
und Enttäuschung, und die Erwachsenen waren ganz offensichtlich
auch keine Hilfe, denn sie kamen ja selbst nicht mit ihrem
Leben zurecht. Also begann er zu trinken. Zog um die Häuser.
Schwänzte die Schule. Schließlich wurde er von der Polizei aufgegriffen,
als er mit einem Sixpack Bier im Auto unterwegs war.
Gott sei Dank übernahm sein Football-Trainer damals die
Verantwortung, die sein eigener Vater immer gescheut hatte. Er
verfrachtete ihn hierher in die Sierras, um gemeinnützige Arbeit
zu verrichten. Man könnte behaupten, dass Coach Rusmore
ihm damit das Leben gerettet hatte, denn so fand Sam eine
Möglichkeit, wie er seine Aggressionen herauslassen konnte.
Gleichzeitig verschaffte ihm die Arbeit den Adrenalinkick, ohne
den er inzwischen nicht mehr leben konnte.
Sam wurde in kürzester Zeit zu einem richtigen Naturburschen.
Der große See war das ganze Jahr über kühl und wildromantisch.
Wenn Sam nicht gerade in den Bergen unterwegs
war – ob nun im Dienst oder in seiner Freizeit –, dann war er
auf dem Wasser. Er angelte, fuhr mit dem Boot raus, nahm sich
ein Kajak, ging zum Rafting oder fuhr mit dem Kiteboard. Sam
konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass er vor zehn Jahren
ernsthaft darüber nachgedacht hatte, von hier wegzugehen, auch
wenn er weder auf die Touristenmassen, die winters wie sommers
hier einfielen, Wert legte, noch auf die Spielkasinos mit all
ihren zwielichtigen Gestalten.
Und das nur wegen einer Frau.
Er war eben jung und dumm gewesen.
»Sieht so aus, als ob Connor zu Besuch ist«, sagte Joe, der
gerade über den Parkplatz der Einsatzzentrale flog. Connors
Truck stand ganz in der Nähe des Heliports.
Sam freute sich darüber, dass Connor mal wieder bei ihnen
vorbeischaute. Das machte er viel zu selten. Es war natürlich
allen klar, woran das lag.
Nach einer ganzen Reihe schmerzhafter Hauttransplantationen
und jeder Menge physiotherapeutischer Maßnahmen für
Hände und Finger war Connor inzwischen zwar ganz klar auf
dem Wege der Besserung, aber die eine große Frage stand nach
wie vor im Raum: Würde er jemals wieder als Feuerwehrmann
arbeiten können?
Denn wie sehr sich Connor auch anstrengen mochte oder
wie sehr er es sich wünschte, wieder auf dem Berg zu stehen,
über seine Zukunft als Hotshot entschied nicht er selbst. Die
Forstbehörde hatte in dieser Angelegenheit das letzte Wort,
und die Verantwortlichen dort wollten keinen Mann in einen
lodernden Flächenbrand hineinschicken, der körperlich nicht
auf der Höhe war.
Joe gab Connor die Hand und verschwand in Richtung der
Duschen; Sam dagegen bemerkte gleich, dass etwas mit seinem
Bruder nicht in Ordnung war.
»Schieß los.«
Connor legte ihm eine Hand auf den Arm. »Setz dich erst
mal, Sam.«
Er hatte verdammt noch mal nicht vor, sich hinzusetzen. Connor
hatte ihn erst ein einziges Mal auf diese Weise angeschaut.
Das war, als Diannas Auto vor zehn Jahren auf dem Highway 50
verunglückt war.
Als sie das Kind verloren hatte.
»Es geht um Dianna, habe ich recht?«
Als Connor nicht gleich antwortete, ging Sam auf ihn los und
griff sich eine Handvoll seines T-Shirts. Connor war genauso
groß und kräftig wie Sam – beide hatten breite Schultern, eine
schmale Taille und waren durchtrainiert –, aber Sam hatte die
Verzweiflung auf seiner Seite.
Wenn sein kleiner Bruder nicht gleich zu reden anfing, würde
er die Antwort aus ihm herausprügeln.
»Verdammt noch mal, sag mir endlich, was ihr zugestoßen ist!«
»Sie hatte wieder einen Autounfall. Letzte Nacht, in Colorado.
Vail. Es kam gerade in den Nachrichten. Ich bin hergekommen,
um es dir persönlich zu sagen, ich wollte nicht, dass du es über
Funk erfährst.«
Sam ließ Connors T-Shirt wieder los und stolperte ein paar
Schritte zurück gegen die Türen einer Reihe von Metallschränken.
»Ist sie …«
Er brachte das Wort »tot« nicht heraus. Sein Gehirn konnte
es nicht einmal denken. Es kam ihm einfach nicht über die
Lippen.
»Die Nachrichtensprecher haben keine Einzelheiten genannt.
Nur, dass beide Autos einen Totalschaden haben.«
Sam hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, nichts
mehr für Dianna zu empfinden, denn dann hätte er sich anhören
können, was Connor ihm da über sie erzählte, ohne dass es ihm
den Tag verdorben hätte. Er hätte einfach weitermachen können
wie bisher. Doch allein die Vorstellung, wie Dianna einsam und
hilflos in einem Krankenhausbett lag, fühlte sich an, als würde
ihm ein Pfahl in die Eingeweide gerammt.
Er konnte es weder auslöschen noch verdrängen, konnte es
nicht hinter sich lassen und so tun, als ob sie ihm nichts mehr
bedeutete.
»Ich muss nach Colorado.«
Connor schüttelte den Kopf. »Deswegen bin ich ja gleich hergekommen.
Ich wollte verhindern, dass du etwas Unüberlegtes
tust.«
Alles in Sam schrie danach, zu Dianna zu gehen. Ihre Hand zu
halten. Für sie da zu sein.
»Auf deine klugen Ratschläge kann ich gut verzichten«, knurrte
er.
»Schön. Wie wär’s dann damit, wenn ich deinem Gedächtnis
etwas auf die Sprünge helfe? Du weißt doch noch, was mit dir los
war, nachdem sie dich verlassen hat?«
Sam schenkte Connors Worten keinerlei Beachtung, sondern
ging zu seinem Spind und entledigte sich seiner Ausrüstung.
Connor lief ihm nach wie ein Hund, der seinem Besitzer unbedingt
den letzten Nerv rauben wollte. Er redete einfach weiter
auf ihn ein, während Sam sich eine frische Cargohose und ein
sauberes Oberteil überzog.
»Du warst ein Wrack, als sie mit dir Schluss gemacht hat und
nach San Francisco gezogen ist. Ich hätte niemals gedacht, dass
ich den Tag erleben würde, an dem dir deine Arbeit egal ist. Das,
was dir immer am wichtigsten war. Aber genau so war es – anstatt
Brände zu löschen, hast du nur noch deine Kehle gewässert.«
Sam stand diese Zeit noch so klar und deutlich vor Augen, als
wäre es gestern gewesen. Connor musste ihn nicht erst daran
erinnern, in was für ein schwarzes Loch er gefallen war, nachdem
Dianna sich von ihm getrennt hatte. Es war eine finstere
Zeit gewesen. Unermesslich. Während der Highschool hatte
er aus Wut getrunken. Aber die Dunkelheit, in die er sich nach
Diannas Weggang fallen ließ, hatte so gar nichts mit Protest oder
Rebellion zu tun gehabt.
Das war reinster Seelenschmerz gewesen. Er hatte ihn von
innen heraus aufgefressen wie eine unheilbare Krankheit.
»Ich weiß, du warst dir sicher, dass sie die Richtige ist«, fuhr
Connor fort. »Aber die Wahrheit ist doch, dass sie nicht gut für
dich war, Kumpel. Du warst so was von im Arsch, als sie weg war.
Ich möchte das nicht noch einmal erleben müssen.«
Sam hatte dem nicht viel entgegenzusetzen. Genau so war es
gewesen.
Dennoch war es einfach undenkbar, nicht zu ihr zu fahren.
Er ging zum Telefon und ließ sich mit dem Vail General Hospital
verbinden.
»Hier spricht …«. Er hielt inne und versuchte, die richtigen
Worte zu finden. »… ein Freund von Dianna Kelley. Könnten Sie
mir sagen, wie es ihr geht?«
»Tut mir leid, Sir«, antwortete die Frau am anderen Ende
höflich. »Es ist uns nicht erlaubt, über den Zustand von Patienten
Auskunft zu geben, es sei denn, Sie gehören zur Familie.«
Logan trat in dem Moment in die Küche, als Sam auflegte.
»Dianna ist etwas zugestoßen«, erklärte er seinem besten
Freund mit belegter Stimme. Dabei räusperte er sich und rang
um Fassung. Himmel, er hatte sie vor zehn Jahren das letzte Mal
gesehen, wieso machte ihm das also so viel aus?
Connor schilderte Logan kurz, was geschehen war. Insgesamt
waren sie zwanzig Männer im Team, aber nur Logan und Connor
waren lange genug dabei, um Dianna noch kennengelernt zu
haben. Keiner der anderen siebzehn Hotshots wusste von ihr; für
die Jungs war sie einfach eine atemberaubende Schönheit, die sie
ab und zu anschmachteten, wenn sie beim Umschalten an ihrem
Gesicht hängen blieben.
»Sag’s ihm«, drängte Connor Logan. »Sag ihm, dass er nicht
einfach so zu ihr rennen kann!«
Logan hatte erst vor Kurzem eine Brandursachenermittlerin
geheiratet, die letztes Jahr nach Tahoe gekommen war, um ihn
als Hauptverdächtigen in ihrem Fall festzunageln. Stattdessen
hatten Maya und Logan gemeinsam den wahren Täter gefasst
und sich dabei ineinander verliebt.
Sam war keinesfalls auf eine Erlaubnis von Logan angewiesen.
Er würde so oder so zu Dianna gehen.
»Ich melde mich bei dir, sobald ich weiß, wie lange es dauert«,
sagte er zu seinem Gruppenführer.
Logan nickte. »Bei dir haben sich sowieso jede Menge Überstunden
angesammelt. Ist ein guter Zeitpunkt, mal ein paar Tage
freizunehmen.« Logan holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank
und klopfte Sam aufmunternd auf die Schulter. »Grüß Dianna
von mir.«
Connor griff nach seinem Autoschlüssel. »Diese Dummheit
wirst du nicht ohne mich begehen. Ich komme mit!«
»Ich verzichte«, sagte Sam nur und lief zu seinem Wagen.
Er würde Dianna nicht unter den Augen seines Bruders ent-
gegentreten. Die Lächerlichkeit, der er sich allein durch die
Tatsache aussetzte, dass er der Frau einen Krankenbesuch abstattete,
die ihn vor zehn Jahren eiskalt abserviert hatte, war
schon alleine schwer genug zu ertragen.
Der nächste Flughafen war vier Autostunden entfernt, in San
Francisco, und Sam nahm die ganze Strecke über nicht einmal
den Fuß vom Gas. Zehn Jahre lang hatte er jeden Gedanken an
Dianna aus seinem Kopf verbannt, doch jetzt drohte ihm die
Sehnsucht den Verstand zu rauben.

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