Leseprobe zu: Tot ist nur, wer vergessen ist

© 2013 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Unverkäufliche Leseprobe

6. Juni 2007
Staatsgefängnis von Huntsville, Texas, Todestrakt
Sarah Durandt zuckte zusammen, als der verblichene blau karierte
Vorhang sich ruckartig öffnete und den Blick auf den an einer
Pritsche festgeschnallten Häftling freigab. Hinter sich hörte sie
eine Frau nach Luft schnappen. Sarah beugte sich vor und legte
eine Hand an die Scheibe, die sie und die anderen Zeugen von
einer Bestie trennte. Sie atmete durch den Mund. Anders war die
stickige Luft in dem engen Raum nicht zu ertragen.
Durch das dicke Glas wirkte jeder Gegenstand in dem weiß
gekachelten Hinrichtungszimmer wie von einem Heiligenschein
umgeben. Panzerglas. Was befürchteten sie, wer hier schießen
würde? Der von den Beruhigungsmitteln inzwischen schon ganz
benommene verurteilte Mann oder diejenigen, die hierhergekommen
waren, um ihm beim Sterben zuzusehen?
Sarah schlang die Hände ineinander, legte sie in den Schoß und
erschauerte, als der eisige Lufthauch aus der Klimaanlage sie traf.
Mit ihr drängten sich elf weitere Menschen vor der Glasscheibe,
alles Angehörige der anderen Opfer. Sie nahm jedoch kaum
jemanden wahr. Die anderen waren hier, um einen Schlussstrich
zu ziehen. Sarah hingegen wollte Antworten.
Aus schmalen Augen, denen kein Detail entging, musterte sie
den Häftling auf der anderen Seite. Infusionsnadeln steckten in
den zur Seite ausgestreckten Armen. Sieben Lederriemen fixierten
seinen Körper, die Pose erinnerte auf fürchterliche Weise an
eine Kreuzigung. Doch dieser Mann war kein Messias.
Er war der Teufel in Person.
Damian Wright war von durchschnittlicher Größe, einer, der
nicht aus der Menge herausstach, mit einem nichtssagenden
Gesicht ohne besondere Merkmale.
Sarah wusste es besser. Sie wusste von seiner Verschlagenheit,
dass hinter der Fassade der Normalität das krankhafte Verlangen
lauerte, andere Menschen zu foltern und zu verstümmeln.
Selbst hier, auf seinem Sterbebett kannte er kein Erbarmen,
verweigerte ihr auch den kleinsten Trost oder ein wenig inneren
Frieden.
Sie wusste nicht, warum sich Damian unter allen Opfern
bei seinen kranken Machtspielchen ausgerechnet auf sie konzentriert
hatte. Sie war nur eine einfache Lehrerin aus einem
Fünfhundert-Seelen-
Dorf im Norden des Staates New York. Ihr
braunes Haar band Sarah meist achtlos zu einem Pferdeschwanz
zurück, nur bei besonderen Anlässen fiel es ihr offen über die
Schultern – wie heute, bei der Hinrichtung eines Serienmörders.
Damians schweißbedeckte Haut glänzte im Schein der großen
runden OP-Lampe. Sie war so grell, dass er die Augen fest
zugedrückt hielt. Der Gefängnisdirektor nickte einem schwarz
gekleideten Mann zu, der ein kleines Silberkreuz im Schoß hielt.
Dann streckte er eine Hand aus, und als sie durch den Lichtkegel
glitt, blitzte sein Ehering auf. Er zog das Mikrofon nach unten.
Unwillkürlich strich Sarah über den Finger mit dem schlichten
Ring daran, den Sam ihr vor sechs Jahren angesteckt hatte.
Das Mikrofon glitt wie eine Kobra nach unten, hielt knapp
über Damians Mund inne und wippte dort hypnotisierend auf
und ab. Mit einem kurzen Klick, der wie ein gedämpfter Schuss
klang, schaltete der Gefängnisdirektor die Lautsprecheranlage
ein. Damians kratziges Atemgeräusch erfüllte den Raum.
Unbewusst atmete Sarah in seinem Rhythmus mit, fast meinte
sie, den Geruch von Desinfektionsmittel und Heftpflaster, von
Schweiß und Angst durch die Scheibe hindurch wahrnehmen
zu können. Alan Easton, der direkt neben ihr saß, drückte ihr
aufmunternd die Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt und klang dabei mehr
wie ein Freund und nicht wie ihr Anwalt. Sarah war die einzige
Angehörige, die für Sam und Josh hier war. Die ganze Familie,
die Sam hinterlassen hatte. Josh – wie hätte sie für ihren Sohn
nicht herkommen können?
Sie nickte abwesend, ihre ganze Aufmerksamkeit galt der
Szene vor ihren Augen. Nur drei Menschen befanden sich in
dem Hinrichtungsraum: der Gefängnisdirektor in seinem blauen
Anzug mit gestärktem weißem Hemd und schmaler Krawatte,
der schwarz gekleidete Pfarrer, und Damian Wright, der Mann,
der ihr Leben zerstört hatte.
Wenn Sarah ihren Sechstklässlern zu Hause den Todestrakt
beschreiben müsste, hätte sie ihnen erklärt, dass alles an dem
abseits vom normalen Gefängnis gelegenen Gebäude darauf ausgerichtet
war, eine Flucht unmöglich zu machen.
Nichts und niemand entkam diesem winzigen Bau mit den
dicken, anstaltsgrün gestrichenen Wänden. Dem zweckmäßigen
Hinrichtungsraum hinter dem Sichtfenster sah man ungeschönt
seine Funktion an. Eine im Boden verankerte Pritsche mit ausklappbaren
Armstützen war das einzige Möbelstück.
»Möchten Sie noch etwas sagen?«, fragte der Gefängnisdirektor
den zum Tode Verurteilten.
Sarah horchte auf. Eine Fliege unterbrach das unheilige Prozedere,
stieß unter ohrenbetäubendem Surren immer wieder
mit den Flügeln gegen das Gitter vor den zwei flackernden
Glühbirnen. Damian Wright, für schuldig befundener Mörder
und Kinderschänder, öffnete die wässrigen Augen und richtete
den Blick direkt auf Sarah. Sie entzog Alan die Hand und ballte
sie zur Faust.
Sag es! Sag irgendetwas! Gib mir einen Hinweis!
Ihr stummes Flehen wurde jedoch nicht erhört. Damian
schwieg, lag schlaff da, ohne sich gegen die Fesseln zu wehren.
Einzig die Brust hob und senkte sich, während er auf seinen
letzten Atemzug zusteuerte. Sarahs eigener Brustkorb schien vor
lauter Anspannung zu bersten. Damian starrte sie weiterhin an
und fing an zu lächeln.
Sarah blinzelte zuerst, gab bereitwillig nach. Sie würde alles
tun, wenn es ihr dabei half, Sam und Josh zu finden.
Damians Lächeln wurde breiter. Doch er blieb stumm.
Vor Wut zog sich ihr Magen zusammen. Verweigerte er ihr
den so verzweifelt ersehnten Schlussstrich, nur weil sie an jenem
Tag, an dem er ihr Josh genommen hatte, bei dieser verfluchten
Lehrerfortbildung gewesen war? Quälte er sie deshalb? Oder lag
es daran, dass von all den Jungs, die er umgebracht hatte, einzig
Joshs Vater zu kämpfen bereit gewesen war, bereit gewesen war,
für seinen Sohn zu sterben?
Alan hatte vermutet, Sam habe Damians Ritual gestört. Ihn
gezwungen, entgegen seiner kranken Fantasie vom geplanten
Ablauf abzuweichen und erst Sam umzubringen, ehe er sich
wieder Josh zuwenden konnte.
Der Pfarrer las aus der Bibel, hob den Blick dabei jedoch nicht
ein einziges Mal vom Buch, um nach der verlorenen Seele zu
schauen, für die er betete.
Vor zweiundzwanzig Monaten noch hätte der Psalm Sarah
Trost gespendet, sie berührt – heute jedoch waren es nur mehr
leere Worte, bedeutungsloser noch als das Surren der Fliege.
Sie legte eine Handfläche an das kalte Glas, denn nicht durch
Gottes Wort, sondern nur von Damian konnte sie erfahren, was
sie wissen wollte.
Sie war ihr Leben lang gläubig gewesen. Wo aber war Gott,
wenn sie ihn am dringendsten brauchte? Wo war er, als ihr
Ehemann und ihr Sohn ihn gebraucht hätten?
»Tut mir leid, dass wir die Hinrichtung nicht aussetzen konnten
«, flüsterte Alan. »Ich weiß, wie sehr du gehofft hattest …«
Sarah tat seine Worte mit einem Achselzucken ab, ihre Welt
bestand nur noch aus dem Blick eines Mörders. Desjenigen
Mannes, der zugegeben hatte, Sam und Josh umgebracht zu
haben, sich aber weigerte, zu verraten, wo sie begraben waren.
Eineinhalb Jahre hatte sie gekämpft. Gegen Damian Wrights
Schweigen, dagegen, dass er sich weigerte, sie zu treffen. Gegen
das neue texanische Gesetz, das mit nie da gewesener Effizienz
Hinrichtungen im Schnellverfahren möglich machte. Gegen sich
selbst, weil sie eigentlich Damians Tod herbeisehnte. Nur ein einziger
Wunsch wog stärker: ihren Mann und ihren Sohn zu finden.
Der Gefängnisdirektor trat vor und las monoton aus einem
Dokument vor, was Sarah jedoch nur am Rande mitbekam.
Wo sind die beiden, du gottverdammter Scheißkerl? Sarah
legte ihre ganze Verachtung und all ihren Hass in ihren Blick,
um Damians Zunge während dieser letzten Sekunden, die er
noch auf Erden weilte, zu lösen. Sie schlug mit der Faust gegen
das dicke Glas, doch nur ein kaum hörbarer dumpfer Laut kam
dabei heraus.
Der Mörder verzog keine Miene, starrte sie einfach nur an.
Sagte aber immer noch nichts. Stattdessen legte sich etwas Mitleidiges
in seinen Blick. Als wäre sie diejenige, die zum Tode
verdammt wäre, und nicht er.
Der Gefängnisdirektor war fertig und nahm die Brille ab, dann
nickte er einmal kurz zu dem Raum hinüber, in dem der Henker
saß. Sarah hatte sich informiert. Hinter dem von der anderen
Seite durchsichtigen Spiegel legte jemand einen Schalter um.
Medikamente flossen in Damians Armvenen. Zuerst noch mehr
Beruhigungsmittel, dann ein die Muskeln lähmendes Gift und
schließlich Kaliumchlorid, um sein Herz zum Erliegen zu bringen.
Die Zeit blieb stehen. Sarah wagte nicht zu blinzeln. Damian
blinzelte ebenfalls nicht.
Drei Minuten später trat der Gefängnispfarrer zur Seite, als
ein Mann in weißem Kittel dazukam und Damian mit einem
Stethoskop abhörte. Anschließend richtete er sich wieder auf,
streckte eine Hand aus und schloss dem Mörder die Augen.
Der Vorhang ging schlagartig zu.
Ein kollektives Seufzen ertönte, und allgemeine Unruhe breitete
sich unter den Zeugen aus. Durch den blinden Nebel, der
Sarah einhüllte, nahm sie das Schluchzen einiger Frauen und
eines Mannes wahr, spürte, wie sich der Raum um sie herum
leerte. Sie verharrte reglos mit brennenden Augen, die sich nicht
schließen wollten.
Alan berührte sie sachte am Arm, löste ihre Faust von der
Scheibe und half ihr auf die noch wackligen Füße. »Wir müssen
jetzt gehen«, sagte er leise.
Bis zum letzten Moment reckte Sarah den Hals und starrte
auf das dunkle Fenster. Als Alan sie schließlich bis nach draußen
in den strahlenden Sonnenschein gebracht hatte, trafen die texanische
Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit sie mit der Wucht
eines Zehntonners.
Mit einem Mal schien sie diejenige zu sein, deren Lunge wie
gelähmt war, sodass sie zu ersticken drohte. Ihr Brustkorb verkrampfte.
Einen Moment lang war es ihr Herz, das zum Erliegen
kam.
Sie zwinkerte kurz, und schon kehrte der Schmerz zurück.
Dieses heftige Stechen hinter den Augen war seit zweiundzwanzig
Monaten ihr treuer Begleiter und wurde weder durch Beruhigungsmittel
noch durch die Hoffnung auf Erlösung gemildert.
Im Gegensatz zu Damian Wrights Schmerzen.
Sie lebte. Zumindest körperlich. Auch der Verstand funktionierte.
Ihre Seele jedoch – die lag irgendwo auf dem Snakehead
Mountain in einem anonymen Grab.
Neben Sam und Josh.
* * *
Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei … Die Worte woben sich
in Sarahs Gedanken, verdichteten sich dort, bis sie einen weichen
Kokon bildeten, der sie von jeglichem Gefühl abschirmte und
ihr einen sicheren Ort bot, an dem sie sich verstecken konnte.
Einen Ort, an dem sie nicht weiter nachdenken musste, nichts
tun, nicht mehr reagieren. Nicht sein. Es ist vorbei, es ist vorbei,
es ist vorbei …
Sarah schlang die Arme noch enger um den Oberkörper,
drehte Alan den Rücken zu und lehnte sich an das Seitenfenster
des Wagens, während sie das Gefängnis hinter sich ließen. Sie
hatte sich geschworen, auf keinen Fall zusammenzubrechen,
zumindest nicht, solange jemand dabei war.
Allerdings war Alan nicht irgendjemand. Alan verstand sie – er
hatte das alles selber durchgemacht. Seine Frau war von einem
Junkie getötet worden, der auf der Suche nach Bargeld in ihr
Haus eingedrungen war. Deswegen hatte er die große Anwaltskanzlei,
in der er gearbeitet hatte, verlassen, um sich für Opfer
von Gewaltverbrechen einzusetzen. Um Menschen wie Sarah zu
helfen.
Wie hätte sie die vergangenen Monate ohne Alan überstehen
sollen?
Mit jeder Reifenlänge entfernten sie sich weiter von Damian
Wright, von Sarahs letzter Aussicht darauf, Sam und Josh zu
finden. Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei …
Sie sackte in sich zusammen, instinktiv suchte die rechte Hand
den einzelnen Ring an der linken. Einen Verlobungsring besaß
sie nicht. Stattdessen hatte Sam ihr damals das gegeben, was ihm
am meisten bedeutet hatte: ein Plektrum des legendären Stevie
Ray Vaughn, das er gegen einen Diamanten austauschen wollte,
sobald er seinen ersten Song zu Geld gemacht hatte. Sieben Jahre
danach steckte immer noch das Plektrum in dem schwarzen
Samtkästchen auf ihrer Frisierkommode.
Ihre Hand war kalt, dennoch strahlte der Ehering Wärme aus,
ganz so, als ob sie Sam berühren würde. Sarah drehte den Ring
im Rhythmus zu den Worten, die sich in ihre Seele brannten, sie
zum Aufgeben verleiten wollten. Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist
vorbei …
Nein! Das darf nicht sein. Nicht auf diese Art und Weise.
Tränen wollten hinter ihren geschlossenen Lidern hervorbrechen.
Sie umklammerte den schlichten Goldring noch fester.
Er war ihre letzte Verbindung zu Sam, und durch ihn auch zu
Josh. Sie war müde, so müde. Sie sollte aufgeben. Was blieb ihr
anderes übrig?
Schließlich ging ihr Leben weiter. Sam hätte gewollt, dass sie
glücklich wurde. Eines Tages. Ein zittriger Atemzug bahnte sich
einen Weg, und sie bemerkte, wie sich Alan neben ihr in seinem
Sitz regte. Alan – könnte sie sich eine gemeinsame Zukunft mit
einem Mann wie ihm vorstellen? Einem Mann, der fast zwei
Jahre seines Lebens darauf verwendet hatte, sie aus heillosem
Schmerz und Leid wieder ans Licht zu führen und ihr diese allerletzte
Chance verschafft hatte?
Letzte Chance, letzte Hoffnung, letzte Ölung.
Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei.
Sarah richtete sich auf, öffnete die Augen und blinzelte in
die grelle texanische Sonne. Sie streckte die Beine aus, glättete
ihr dunkelblaues Kleid. Solange Josh und Sam nicht gefunden
wurden, weigerte sie sich, in Schwarz zu gehen. Der dunkle
Highway fesselte ihren Blick und lenkte ihn in die Zukunft.
»Geht es wieder?« Alan wandte den Blick von der Straße ab
und starrte sie eine Zeit lang unverwandt an.
Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ja. Es geht mir
gut.«
Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei … unablässig erdröhnten
die Worte in ihrem Innern, traktierten sie wie ein bockiges
Kleinkind, das wieder und wieder mit dem Kopf auf den Boden
schlägt, weil es nicht bekommt, was es will. Josh hatte das früher
auch manchmal gemacht. Bis er gelernt hatte, dass er so niemals
das bekam, was er wollte.
Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei!
Sarah schüttelte den Kopf – mehr brauchte es jetzt nicht, damit
Josh verstand. Ein leichtes Kopfschütteln, ein Lächeln, und
er würde aufhören, zu quengeln, stattdessen nach ihrer Hand
greifen und sich an sie schmiegen. Tut mir leid, Mama, hatte ich
vergessen.
Aber ich nicht.
Es ist vorbei, es ist vorbei, es ist vorbei … Nein. Das ist es nicht.
Es hat erst begonnen.

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